Greta Thunberg muss sich vorsehen, sollte sie in der nächsten Zeit eine (See-)Reise nach Indien planen. Bei ihrer Ankunft riskierte sie, sofort verhaftet zu werden wegen Teilnahme an einer Verschwörung. Auch mildernde Umstände – z. B. Minderjährigkeit – dürften Greta kaum nützen. In Indien schleppen sich die meisten Gerichtsfälle über Jahre hin. Gegenwärtig sind nicht weniger als 27 Millionen Prozesse hängig.
Gegen wen oder was sich die junge Frau eigentlich verschworen hat, ist unklar. Der unmittelbare Anlass für den Haftbefehl war der Tweet der Sängerin Rihanna gewesen, die sich über die Blockierung des Internets in grossen Teilen der Hauptstadt Delhi aufgeregt hatte. Aber sie streifte dabei auch die Bauernproteste, den unmittelbaren Anlass des Cyber-Banns. Thunberg hatte sich dieser Kritik angeschlossen, ähnlich wie andere internationale Twitter-Aktivisten, darunter Meena Harris, die Nichte der neugekürten US-Vizepräsidentin.
Standhafte Bauern, panische Regierung
Die Kommentare lösten einen nationalistischen Aufschrei gegen die Medienstars aus, die es wagten, sich in die „inneren Angelegenheiten des Landes“ einzumischen. Aber die bizarre Überreaktion der Regierung gab der internationalen Kritik – und den Sympathien für die protestierenden Bauern – nur noch mehr Rückenwind (Rihanna allein hat über 100 Millionen Followers). Und sie zerrte die gleichzeitige Verhaftungswelle gegen Journalisten und Politiker ins internationale Rampenlicht.
Die bizarre Massnahme zeigt auch die wachsende Panik und Ausweglosigkeit, in der die Regierung Modi steckt. Seit nun drei Monaten halten die Bauern mehrere Einfallstrassen in die Hautstadt besetzt. Sie protestieren gegen drei neue Landwirtschaftsgesetze, die – laut ihnen – ihr wirtschaftliches Weiterleben gefährden. Verhandlungen haben nichts gefruchtet, und das Ziel der Regierung, den Streik auszusitzen, zeigte bisher keine Resultate.
Im Gegenteil, die Taktik der Bauern ist bisher aufgegangen. Ihr Protest vermied jede Anwendung von Gewalt. Sie hielten dies selbst bei Konfrontationen mit der Polizei durch, obwohl diese den Gegner mit rücksichtslosem Einsatz ihrer Kampfmittel zu provozieren versuchte.
Der Staat erzeugte damit nur eine Sympathiewelle für die Protestierenden, trotz der weitgehend gleichgeschalteten Mainstream-Medien. In den Sozialen Medien dagegen war die Berichterstattung überwiegend positiv, namentlich auf YouTube, wo sich eine Reihe von kleinen TV-Kanälen eingerichtet hat. Auch die städtischen Eliten, die der Bewegung zuerst kritisch gegenüberstanden, distanzieren sich immer stärker vom Vorgehen der Regierung.
Zwischenfall am Republic Day
Die Regierung musste also versuchen, die Popularität der Bauernbewegung zu unterlaufen, indem sie deren „angeblich friedliche Natur“ blossstellte und gleichzeitig die positive Berichterstattung darüber unterband. Sie sah die Gelegenheit gekommen, als die Bauern am 26. Januar, dem nationalen Republic Day, nach der traditionellen Parade der Streitkräfte ihre eigene Traktorenparade durchführen wollten.
Als sich diese an mehreren Punkten vom Stadtrand her in Bewegung setzte, trafen die schrötigen Fahrzeuge auf städtische Busse, die ihnen in den Weg gestellt wurden. Diese wurden beiseitegeschoben oder gingen bald in Flammen auf. Es war willkommenes Videomaterial für die regierungsfreundlichen TV-Stationen. Die mehreren hundert Millionen Zuschauer der Parade sollten sehen, dass die friedlichen „Gandhianer“ in Wahrheit Randalierer waren.
Als der Zug beim Red Fort in Alt-Delhi vorbeikam, um ins Zentrum des Regierungsviertels vorzudringen, lösten sich plötzlich einige hundert Bauern in Turbanen aus dem Menschengewühl und stürmten auf die Mogulfestung los. Sie durchbrachen mit Leichtigkeit den Polizeikordon, drangen durch die offenen Tore und erschienen kurz darauf auf den Zinnen der Festung. Einige bestiegen die Kuppel des nahen Mausoleums und pflanzten dort eine Sikhfahne auf.
Das Husarenstück fand sofort die nötige Aufmerksamkeit. Denn nur kurz zuvor hatte Premierminister Narendra Modi daselbst unter der indischen Trikolore seine Festrede gehalten. Und nun wurde ein zentrales Symbol des Staats symbolisch aus den Angeln gehoben, und dies vor den zahlreichen Kameras, die dort für den Anlass der Feier aufgestellt waren.
Regierungsnahe Agents provocateurs
Der Coup führte auch in den Reihen der Traktorenparade zu Verwirrung. Der erste Triumphreflex schwand rasch, als die Organisatoren gewahr wurden, dass die Anführer nichts mit der Protestbewegung zu tun hatten. Im Gegenteil, rasch sickerte durch, dass ihre Anführer Verbindungen zur Regierungspartei unterhielten.
Ebenso rasch stellte sich aber auch die Frage, wie es einem kleinen Trupp so rasch gelingen konnte, die Absperrungen und vor allem den mehrfachen Polizeiring zu durchbrechen. Er war nicht nur für den Auftritt des Premierministers aufgezogen worden, sondern auch wegen der bedrohlichen Nähe der Strecke, an der die Parade der Bauern vorbeiführen würde.
Die Bauernorganisationen distanzierten sich sofort von dieser spektakulären Erstürmung eines nationalen Symbols. Je lauter die regierungstreuen TV-Medien die Aktion als Hochverrat und einen Terroranschlag breitschlugen, desto bestimmter wiesen sie diese zurück.
Sie konnten dabei auf den merkwürdigen Umstand verweisen, dass der Handstreich ausgerechnet im Brennpunkt des Nationalen Feiertages mit seinen zahllosen Sicherheitskräften so reibungslos gelingen konnte. Bilder zeigten Polizeipersonal, das zusah, als die Angreifer über die Kuppel stiegen und die Flagge aufzogen.
Für die Bauern wurde rasch klar: Es war kein Husarenstück, sondern eine von staatsnahen Agents provocateurs eingefädelte Sabotageaktion. Sie hatte das Ziel, die Protestbewegung zu diskreditieren und die öffentliche Meinung im In- und Ausland auf die Seite Modis zu ziehen.
Stürmung des US-Kapitols als Muster
Die Strippenzieher hatten, so der Vorwurf, die Ereignisse vom 6. Januar im Kapitol der amerikanischen Hauptstadt als Vorgabe gewählt, in der Hoffnung, die dabei geweckten Emotionen auf die eigene Bühne zu lenken. Wie die Meute vor dem Kapitol sollten auch die protestierenden Sikhs als „domestic terrorists“ dastehen.
Wie immer die Hintergründe aussehen, es ist klar, dass das Prestige des Premierministers in diesem Schlagabtausch zu wackeln beginnt. Ein Indiz dafür ist, dass sich in der öffentlichen Meinung die Lesart der protestierenden Bauern durchzusetzen beginnt. Vor allem die offizielle Verdächtigung, dass hinter den Mauerstürmern Angehörige der Khalistan-Bewegung steckten, sorgt für Kopfschütteln, wenn nicht Entrüstung.
Viele Inder erinnern sich mit Schrecken an den blutigen Bürgerkrieg vor fünfunddreissig Jahren, als radikale Sikhs die Unabhängigkeit des Panjab von Indien erreichen wollten. Die Erinnerung an deren Terrormethoden ebenso wie die brutale Reaktion des Staats ist zu schmerzlich (und zu weit hergeholt), um sie für politisches Gerangel zu akzeptieren.
Schulterschluss unter Bauernorganisationen
Die Pauschalverurteilung der Bauern als Terroristen hat zudem einen Schulterschluss unter den Bauernorganisationen bewirkt. Bisher waren vor allem Bauern aus Haryana und Panjab Gesicht und Rückgrat des Widerstands. Nun solidarisiert sich auch die mächtige und gutsituierte Bauernkaste der Jats im westlichen Teil des Bundesstaats Uttar Prdaesh mit ihnen. Damit lassen sich die Proteste nicht mehr in einzelne Regionen und Kasten schubladisieren. Und die Bauern sind landesweit immer noch das weitaus grösste Wählerreservoir.
Es ist möglich, dass die staatliche Breitseite der Regierung gegen die Medien ebenfalls damit zu erklären ist, dass sich ihr Narrativ der Red-Fort-Stürmung nicht durchsetzen konnte. Um dieses dennoch zu erzwingen, beschloss sie einmal mehr, die Überbringer der schlechten Nachricht aus dem Verkehr zu nehmen.
Sie nahm den Tod eines jungen Bauern am gleichen Tag zum Anlass, um loszuschlagen. Erste Berichte hatten die Polizei für den Zwischenfall verantwortlich gemacht. Als sich zeigte, dass der Mann unter die Räder eines Traktors geraten war, korrigierten die Journalisten ihre Berichte. Die Polizei kümmerte dies wenig. Sie erliess eine Reihe von Haftbefehlen wegen Diffamierung des Staats. Gleichzeitig wurde es im Cyberspace über Delhi dunkel. Mit einem weiteren Internetbann festigte der indische Staat seinen Ruf als Weltmeister in der Zahl willkürlicher Internet-Stopps.
Massive Aufrüstung gegen die Protestbewegung
Auf den „Star Wars“-Angriff, dem auch die arme Greta Thunberg zum Opfer fiel, folgte am Tag darauf ein wahrhaft mittelalterliches Verteidigungsdispositiv. Eine Reihe von Bautrupps fuhr mit schwerem Gerät auf, um den Zugang zu den Lagern der protestierenden Bauern dichtzumachen. Sie errichteten nicht nur Barrikaden und Gitter mit Stacheldrahtrollen. Wahre Festungsgräben wurden ausgebaggert, schwere Betonklötze platziert, die mobilen Metallzäune wurden einbetoniert.
Doch dies war immer noch nicht sicher genug. Es folgten Reihen um Reihen von im Beton verankerten Stahlstiften. Aus der Fernsicht der TV-Kameras sah es aus, als wäre die fünfzig Meter lange Hürdenstrecke Teil einer internationalen Ausstellung über historische Verteidigungsmethoden. Den Kommentatoren lag allerdings ein anderer Vergleich näher: Die Hürden stellten sogar die hochbrisanten Grenzübergänge zu den Erzfeinden Pakistan und China in den Schatten. Nur lagen sie hier im Herzen des Landes, und sie waren gegen dessen bäuerliches Urgestein gerichtet.