„Lügenpresse“ skandieren Demonstranten und reden viel von einer angeblichen Überfremdung Deutschlands. Auf Scheinflüchtlinge, die nur „von unserem Sozialsystem schmarotzen“ wollten, auf ausländisch aussehende Menschen wird zur Jagd geblasen. Und die Regierung Angela Merkels wird als Volksverräter diffamiert.
Es ist ja nicht neu, was derzeit in Chemnitz vor sich geht. Erinnert sei nur an Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln, die Magdeburger Himmelfahrtskrawalle (1994) oder die Hetzjagd im Februar 1999 in Guben, an den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), die Gruppe Freital und zahlreiche weitere solcher Gruppen und Grüppchen. Diese rechten Banden, Vereinigungen oder Organisationen belassen es schon seit langem nicht mehr beim Hitlergruss und dumpf gebrüllten Naziparolen.
Von 1990 bis 2012 zählten der Berliner „Tagesspiegel“ und „Die Zeit“ „mindestens 149 Menschen, (die) ihr Leben durch Angriffe rechtsextremer Täter verloren“. Die Polizei führte in diesen Jahren lediglich 63 Todesopfer rechter Gewalt in ihrer Statistik. Kaum überraschend, schliesslich sah sie jahrelang bei den NSU-Morden phantasievoll eine mystische Dönermafia am Werk. Zwischen November 1990 und Oktober 2017 zählte die Heidelberger Amadeu Antonio Stiftung, so benannt nach einem der ersten Opfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung, 188 Todesopfer.
Alte autoritäre Muster
Neu sind auch nicht die Mitläufer, die gerne erzählen, sie hätten Angst, und stets betonen, keine Rechtsradikalen oder Neonazis zu sein. Bei ihnen sind zwar im Wertebereich Affinitäten zum Rechtsextremismus festzustellen, im Normenbereich zeigen sich jedoch auch Unterschiede. Wie bei den Tätern sind jedoch auch bei Mitläufern, die sich selber nicht als rechtsextrem beschreiben, autoritäre Tendenzen zu beobachten.
Aber „nicht Hitler erhebt hier sein Haupt, nicht Militarismus, nicht Antisemitismus wird hier gepredigt“, schrieb der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen in seinem Vorwort zu der 1980 von der Regierung Schmidt in Auftrag gegebenen „Sinus-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen“. Es seien „politikgeschichtlich sehr viel ältere autoritäre Einstellungsmuster, die zählen, zum Beispiel die Meinung, es gebe typisch deutsche Eigenschaften wie Treue, Fleiss und Pflichtbewusstsein, die anderen Nationen fehlten, auf die es aber ankomme, um ein Abgleiten unserer Gesellschaft in moralischen Verfall und wohlfahrtsstaatliche Bequemlichkeit zu verhindern“.
Der „Typ des Radfahrers“
Diese Stereotype des nationalen Selbstbildes der Deutschen benannte schon Immanuel Kant 1798 in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in der er von ihm wahrgenommene Unterschiede zwischen dem deutschen Volk und anderen europäischen Völkern darstellte. Kant zählte unter anderem den Fleiss, die Ehrlichkeit und Häuslichkeit der Deutschen auf. Das sind exakt die Sekundärtugenden, die Bonner Regierungschefs wie Helmut Schmidt einzufordern pflegten: Fleiss, Disziplin, Strebsamkeit, Ordnung, Pflichtbewusstsein. Als unvorteilhaft hob Kant hervor, der Deutsche „fügt sich unter allen zivilisierten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten der Regierung, unter der er ist“ und neige in pedantischer Weise dazu, „zwischen dem, der herrsche, bis zu dem, der gehorchen soll, eine Leiter anzulegen, woran jede Sprosse mit dem Grad des Ansehens bezeichnet wird, der ihr gebührt“ – eine glänzende Beschreibung deutscher Obrigkeitshörigkeit, die Heinrich Mann nur wenig überspitzt in seinem Roman „Der Untertan“ schilderte.
In seinem Buch „Escape from Freedom“ beschrieb Erich Fromm den „autoritären Charakter“, der nach Anleitung und Führung verlangt und sich vor der Freiheit fürchtet. Unter dem Begriff „autoritärer Charakter“ fasst er (Theodor Adorno sprach von „autoritärer Persönlichkeit“) ein bestimmtes Muster von sozialen Einstellungen und Eigenschaften zusammen, die das Sozialverhalten seiner Auffassung nach negativ prägen. Hierzu gehören Vorurteile, Konformität, Destruktivität, Autoritarismus, extremer Gehorsam gegenüber Autoritäten, Rassismus und Ethnozentrismus, das heisst Ablehnung des Fremden und fremder Kulturen. Autoritätshörig und gegenüber dem Schwachen selbst autoritätsgebietend ähnelt der autoritäre Charakter dem „Typ des Radfahrers“, der nach oben buckelt und nach unten tritt.
Greiffenhagen, der „hohe Konvergenzen von Rechtsextremismus und niedrigem Bildungsgrad, Arbeitslosigkeit und anderen Formen sozialen Leids“ sah, ging sogar davon aus, dass „unsere Kultur stärker als etwa die britische der Gewalt an sich positive Züge zuzusprechen geneigt ist“. Daraus folgert er, dass in Deutschland eine Ideologie vorherrsche, die Krieg und Gewalt zu den politischen Grundkräften zählt.
Umfrage-Schock von 1980
Die Ergebnisse der oben erwähnten Sinusstudie schockierte die Auftraggeberin, die Bundesregierung. Der Untersuchung zufolge waren damals immerhin fünf Millionen Bundesdeutsche der Meinung, „wir sollten wieder einen Führer haben“; ein knappes Drittel der Befragten glaubte, „die nationalen Kräfte werden in der Bundesrepublik unterdrückt“ und dass „unserem Volk bald eine ungeheure Katastrophe bevorsteht, wenn es so weitergeht“. 28 Prozent meinten, „gäbe es wieder Arbeitslager, kämen Zucht und Ordnung von alleine“. 39 Prozent stimmten zu, dass „nicht nur unsere Umwelt, sondern auch unsere Rasse rein erhalten werden muss“.
Zwar war in jenen Jahren das Wort von der „Lügenpresse“ noch nicht zu hören, doch 39 Prozent der Deutschen glaubten der Untersuchung zufolge, dass „unser Volk durch die linken Journalisten in Rundfunk und Fernsehen systematisch irregeführt wird“. Schon damals misstrauten viele Bürger der Regierung. Über die Hälfte stimmte der Behauptung zu: „Die meisten Menschen haben keine Ahnung, wie stark ihr Leben von geheimen Abkommen und Plänen kontrolliert wird“, es fehle „eine echte Volksgemeinschaft“. Und 35 Prozent waren der Ansicht, „der heutige Staat ist kein Beschützer der Volksgemeinschaft mehr“.
Auch die Unsicherheit, in der Analyse der Soziologen eine Erklärung für die Radikalisierung, wurde schon damals in der Bundesrepublik festgestellt: 68 Prozent, mehr als zwei Drittel der Bundesbürger, klagten: „Alles ändert sich so schnell, dass man oft nicht weiss, woran man sich halten soll.“ Die Autoren der Studie erklärten 35 Jahre nach Kriegsende ihren Befund denn auch nicht nur mit dem Fortdauern nationalsozialistischen Gedankenguts, „sondern auch mit dem Hinweis darauf, dass es in Zeiten schnellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandels immer auch Gruppen gibt, die von der Entwicklung überrollt werden und darauf mit einfachen und autoritären Denkmustern reagieren“.