Schon als Gebäude ist das Museum Haus Konstruktiv ein Glücksfall für Jürg Stäuble. Das einstige EWZ-Unterwerk Selnau diente als Umformerstation rund hundert Jahre lang der Elektrizitätsversorgung der Stadt Zürich. Historie und Ambiance des Hauses nehmen Jürg Stäubles Arbeiten gewissermassen als Familienangehörige auf. Kein Wunder, denn sie beruhen grossenteils auf einem handwerklich-technischen Umgang mit industriellen Materialien.
Nähe zu den Konstruktiven
Einen Bezug zu Stäuble hat jedoch nicht nur die Hülle, sondern auch die Idee des Hauses. Die denkmalgeschützte Industriearchitektur des 2001 eröffneten Museums passt nämlich ideal zu dessen Zweck: Das Haus Konkret verschreibt sich der Aufgabe, in Weiterentwicklung der Tradition der Zürcher Konkreten (Max Bill, Richard Paul Lohse, Camille Graeser, Verena Loewensberg) konstruktive, konkrete und konzeptuelle Kunst zu pflegen und zu erforschen. Seit der russischen Avantgarde und der niederländischen De-Stijl-Bewegung hat dieser Strang die Kunst der letzten hundert Jahre entscheidend mitgeprägt. Stäuble versteht sich zwar nicht im strengen Sinn als Konstruktiver, steht der ganzen Kunstrichtung aber doch eindeutig nahe.
Wie in der Kunst eines Max Bill oder einer Verena Loewensberg sind auch bei Jürg Stäuble das geometrische Konstruieren, das Spiel mit numerischen Beziehungen und das Variieren bildnerischer Versuchsanordnungen eine Grundlage des Gestaltens. Doch anders als bei den Zürcher Konstruktiven geht es bei Stäuble letztlich nicht um die Schönheit elementarer Formen, reiner Farben und mathematischer Ordnungen. Vielmehr benützt er solche Elemente und Bauprinzipien als Ausgangsmaterial, aus dem sich überraschende Formen und Strukturen ergeben können.
Stäuble selbst beschreibt das im Gespräch mit Sabine Schaschl, Direktorin von Haus Konstruktiv und Kuratorin der Werkschau, wie folgt: „Es gibt Kunst, die die Schönheit eines Systems aufzeigen will. Ich denke, gerade in der konstruktiv-konkreten Kunst war das teilweise schon eine Motivation – so etwas wie das Übergeordnete, das Allgemeine eines Systems. In gewissem Sinne geht es um die Definition von etwas Absolutem. Dann ist man quasi der Priester, der das zelebriert und aufzeigt. Ich brauche Systeme, ich liebe Systeme, ich kann nicht einfach aus dem Bauch heraus arbeiten. Aber es geht auch darum, mit ihnen etwas zu kreieren, das ich mir vorher vielleicht gar nicht vorstellen konnte – etwas, das über das System hinausgeht. Man hat dann einen emotionalen oder geistigen Mehrwert erzeugt. Indem man zeigt, dass aus eins und eins nicht zwei, sondern eben sieben entstehen kann.“
Karyatiden im EWZ-Unterwerk
In einem eigens für die gegenwärtige Werkschau geschaffenen raumfüllenden Werk demonstriert Stäuble seinen Umgang mit konstruktiven Gestaltungsprinzipien. Im grossen Saal des dritten Stocks ist die etwa fünf Meter hohe Decke von sechs in einer Reihe stehenden Säulen gestützt. Diese hat der Künstler in schlanke raumhohe Skulpturen verwandelt, deren je verschiedene Formen sich aus einer einfachen konstruktiven Regel ergeben: Die jeweils vier senkrechten Kanten der auf quadratischen Grundflächen aufbauenden Körper schwingen als mathematisch definierte Wellenlinien. Diese Sinuskurven haben alle die gleiche Amplitude, aber unterschiedliche Frequenzen, variierend von dreieinhalb bis achteinhalb Hebungen. Die kombinatorischen Varianten ausschöpfend, sind die sechs unterschiedlichen Wellenlinien den 24 Kanten der weissen Säulen so zugeteilt, dass jeder dieser glatten weissen Körper seine einmalige stereometrische Gestalt bekommt. Der Effekt ist grandios. Die sechs Skulpturen stehen beschwingt wie die sechs Karyatiden auf der Akropolis und bringen tänzerische Bewegung in den statischen Raum.
Wer sich durch den Saal bewegt, sieht die Säulen immer wieder anders. Je nach Blickwinkel ergeben ihre Silhouetten und komplex gebogenen Flächen andere Ansichten. In der Reihe erzeugen die sechs Körper unterschiedliche Bezüge zueinander. Doch das ist noch nicht alles. Als ein selbständiges und doch raffiniert auf das Säulenballett bezogenes Werk hat Stäuble die dahinter liegende Längswand mit einer grossflächigen Linienstruktur versehen. Von drei virtuellen Punkten strahlen die sich überlagernden Geraden aus und bilden ein elegantes Netz, vor dem sich die weissen Karyatiden abheben. Dieses Ensemble lässt den Betrachter erfahren, was Stäuble meint mit dem „emotionalen oder geistigen Mehrwert“, der als überraschender Effekt aus einfacher und strenger Regelhaftigkeit herausspringen kann.
Raumbilder und Bildräume
Jürg Stäubles Anfänge als Künstler liegen in der klassischen Malerei. In den 1970er-Jahren beschäftigte er sich mit abstrakt-minimalistischen Landschaften, die durch Aufladung mit konstruktiven Elementen eine erste Hinwendung zum Konstruktiv-Konkreten anzeigen. Diese Findungen stellen keine ausserhalb des Bildes existierenden Objekte dar. Einzig der Raum als solcher ist präsent. Die konventionell in Öl auf Leinwand realisierten Stücke kann man nur behelfsmässig als Landschaftsbilder bezeichnen; Raumbilder wäre treffender. Stäuble setzt sich hier nicht nur mit Zwei- und Dreidimensionalität auseinander, sondern auch mit Konstruktivität und Darstellung.
Die gleichzeitigen Experimente auf dem Feld der Land Art waren eine konsequente Übersetzung der Raumbilder in Bildräume. Dabei geht es um ein Spiel, das die dreidimensionale Objektwelt und die zweidimensionalen Bildvorstellungen von ihr gegenseitig ineinander kippen lässt. Zugleich wird auch hier der konstruierende Eingriff in eine (sich selbst „darstellende“) Landschaft zum beherrschenden Thema. Land Art ist denn auch eine Kunstform, bei der das theoretisch-ästhetische Stützgerüst stets ziemlich stark durchscheint. – Vielleicht war es der didaktische Zug, der solchen Objekten immer ein bisschen anhaftet, der Stäuble dazu führte, von solchen künstlerischen Arbeiten bald wieder Abschied zu nehmen. Schliesslich hatte er sich ja gegen den Lehrerberuf und für ein freies Künstlerdasein entschieden.
Billiges Material, befremdliche Schönheit
Mit seinen jüngeren Werkgruppen ist Jürg Stäuble zum Plastiker und Konzeptkünstler geworden. Sein Material sind Bleche, Flugzeugsperrholz, MDF, Glas, Stahl- oder Eternitrohre, Verpackungs- und Dämmstoffe wie Karton, Styropor, Styrofoam und Jackodur – aber auch Papier, Spiegelscherben, Make-up und vieles mehr aus dem Fundus des Alltags. Stäuble zaubert mit diesen Stoffen, wobei er sie wohlgemerkt nicht direkt und spontan – oder „aus dem Bauch heraus“ – bearbeitet. Vielmehr führt er seine Materialien einer regelhaften, mathematisch formulierten und strukturierten Bearbeitung zu.
Ein Beispiel sind hellblaue Styrofoam-Blöcke, denen er mit einem erhitzten Draht beidseits eine mittels Schablone vordefinierte Wellenstruktur präzise einschneidet, und zwar vorn und hinten um neunzig Grad gedreht. Wo von beiden Seiten tiefe Wellentäler zusammentreffen, entstehen eliptische Löcher. Eine Reihe so bearbeiteter Schaumstoffobjekte ragt in einem kleineren Saal in dichter Reihe über Kopfhöhe in den Raum. Die Besucher schauen auf zu einem nie gesehenen Gebilde, dessen billiges Material und befremdliche Schönheit in schillerndem Kontrast stehen.
Weitere Objekte sind: ein gezacktes Band aus sperrigem Baustahl, das mit vehementem Krafteinsatz in eine Kreisform gezwungen wurde; komplizierte Schnittformen aus Sperrholz, die nach der Zusammenfügung ihrer losen Enden eine gar nicht leicht erfassbare Raumstruktur bilden; schwarze Zwitterformen aus Kegeln, Ellipsen, Ringen, teils mit Drehungen und Durchdringungen, die wie Findlinge am Boden liegen; Metallplatten und –stäbe, in gezirkelten Anordnungen so an die Wand und aneinander gelehnt, dass man nach der Gesetzmässigkeit sucht, die sich in ihnen verbirgt.
Visuelle Signatur der Jetztzeit
Besonders aus Stäubles aleatorischen Gebilden, die aus dem Zusammentreffen fester Regeln mit dem Zufall oder dem willentlichen Eingriff entstehen, springt einem regelrecht die visuelle Signatur der Jetztzeit entgegen. Man hat ja solche Muster im Hinterkopf: DNA-Sequenzen, Halbleiterplatten, Bilder aus dem Rasterelektronenmikroskop. Kein Wunder, wird Stäuble von Architekten beigezogen, und zwar nicht etwa allein für den künstlerischen Schmuck von Bauten, sondern auch für die visuelle Kreation wichtiger Gebäudeteile und in einem Fall der gesamten Aussenhaut (die zur Ausstellung erschienene Monografie dokumentiert solche Arbeiten).
Ist Stäuble damit vom Künstler zum Designer mutiert? Wahrscheinlich würde die Frage ihn nicht gross beschäftigen. Auf dem Niveau, das für Aufgaben wie die Gestaltung anspruchsvoller Bauten vorausgesetzt ist, können die Grenzen zwischen Design und Kunst sich auflösen. Das geschieht hier mindestens ansatzweise. Die Werkschau präsentiert so gesehen auch einen Künstler-Designer.
Stäuble befindet sich damit in guter Gesellschaft: Genauso wie die konstruktiv-konkrete Kunst sich immer von visuellen Codes des Industriezeitalters inspirieren liess, hat sie auch seit jeher keinerlei Berührungsängste vor industriellen und architektonischen Anwendungen ihrer gestalterischen Ideen. Jürg Stäuble führt diesen Austausch weiter in der postindustriellen Zeit.
Museum Haus Konstruktiv, Zürich: Jürg Stäuble – Mehr sein als System, noch bis 3. September 2017
Zur Ausstellung ist im Hatje Cantz Verlag eine Monographie gleichen Titels erschienen.