„Verlorene Generation“ werden sie genannt. Sie möchten arbeiten, doch sie können nicht, sie finden keine Stelle: Jugendliche im Süden Europas. Alarmierend daran ist die seit Jahren festzustellende Hilf-, Ideen- und Willenlosigkeit der verantwortlichen politischen Eliten.
Recht auf Arbeit
Arbeiten heisst vordergründig, für den Lebensunterhalt aufzukommen. Vielleicht ermöglicht es sogar, ein angenehmes Leben aufzubauen. Wer arbeitet, erwirbt soziale Kenntnisse und damit entwickelt sich eine gestärkte Persönlichkeit. Arbeit ist besser als Nichtstun („Müssiggang ist aller Laster Anfang“). Der Entscheid, nicht arbeiten zu wollen, ist Privatsache. Arbeiten zu wollen, aber nicht zu können, ist eine Tragödie.
Arbeit wird gemäss der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als elementares Menschenrecht definiert und stellt gleichzeitig auch den Grundstein für den internationalen Menschenrechtsschutz dar (Generalversammlung der Uno, 1948). Mitauslöser zu dieser Deklaration war u.a. das Vor- und Umfeld des Zweiten Weltkriegs. Damit sollten Bedingungen geschaffen werden, dass alle Menschen in Frieden und frei von Furcht und Mangel leben können.
Verlorene Generation
In der arabischen Welt gibt es Heerscharen von Arbeitslosen, vor allem unter den Jugendliche. Noch haben wir in Erinnerung, wie sich der arbeitslose 26-jährige Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 mit einem Farblösemittel übergoss und anzündete. Er erlag seinen Verletzungen kurz darauf. Gleichzeitig ging die Macht der tunesischen Regierung in Brüche – der "Arabische Frühling" wurde zum Begriff und zum Flächenbrand. Ägypten, Libyen folgten. Hosni Mubarack und Muammar al-Gaddafi als Diktatoren erlebten das hautnah.
In der EU lag die Jugendarbeitslosigkeit im Sommer 2014 in Spanien bei 58%, Griechenland 53%, Italien 42%, Kroatien 41% und Portugal mit 35%. Man spricht von der „Verlorenen Generation“ und meint damit schlicht, dass Südeuropas Jugend abgehängt wird. In Brüssel wird nach Lösungen gesucht. Seit Jahren.
Ältere und junge Arbeitslose
In der Schweiz kennen wir vor allem das Problem der Arbeitslosen der Generation 55+. Stellvertretend sorgte in der NZZ am Sonntag im Juli 2014 der Hilferuf des 57-jährigen, seit einem Jahr arbeitslosen Fachmanns der Finanzindustrie mit zwei Mastertiteln, für Aufmerksamkeit. Die Jüngeren nähmen den Älteren die Arbeit weg, war zu lesen. Diese Situation ist für die betroffenen älteren Menschen zum Verzweifeln. Dies soll nicht verniedlicht werden. In diesem Beitrag geht es aber primär um das umgekehrte Phänomen.
In den Krisenländern des südlichen Europas versperren oft die Älteren den Jungen den Eintritt ins Erwerbsleben. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist dort aber auch hausgemacht, weil hier zwei getrennte Arbeitsmärkte bestehen, einen gesicherten für die Alten mit unkündbaren Dauerstellen und einen „mit hochflexiblen Anstellungen, was Marx eine industrielle Ersatzarmee genannt hätte für die Jungen“ (DIE ZEIT). Jetzt will EZB-Chef Draghi das (wieder einmal) ändern. Er fordert die Regierungen … zum Handeln auf. 5,26 Millionen Jugendliche sind in der EU ohne Arbeit.
Terror als Erfolgserlebnis
Wohin „Verlorene Generationen“ führen können, erleben wir tagtäglich im arabischen Raum. Neuerdings eskalieren die unterschiedlichen Konflikte im Nahen Osten. Die Unruhen des Arabischen Frühlings erscheinen geradezu harmlos im Vergleich zu den „Kreuzzügen“ der Terrormiliz des Islamischen Staates (IS). Die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher ist einer der Gründe für den Zufluss an Kriegswilligen.
Unter den rund 25‘000 Extremisten sollen sich 3000 westeuropäische Jugendliche befinden. Sie suchten ein „Erfolgserlebnis“, sagen Experten. Da werden Erinnerungen wach an Brandherde im letzten Jahrhundert, die mit den beiden Weltkriegen zu den grössten Katastrophen der modernen Zeit gehören. Noch etwas länger ist es her, seit junge Schweizer in fremde Kriegsdienste zogen, weil es zuhause kein Auskommen gab.
Reformunfähigkeit
Rund um das Mittelmeer pendelt die Jugend zwischen Aufruhr und Resignation. Sie sieht sich als Opfer der Machthabenden, gewählter oder diktatorischer. Die Auswirkungen ausbleibender Reformen stehen am Anfang des Desasters. Während die Globalisierung viele (meist westliche) Staaten seit Jahrzehnten von einem strukturellen Umbruch zum nächsten treibt, dabei Arbeitsproduktivität und Konkurrenzfähigkeit laufend erhöht werden, die IT-gestützte Technologie Herstellung, Logistik und Kommunikation umkrempelt, verharren die kritisierten Länder im Stillstand.
„Italien ist nicht reformierbar“, hört man von Einheimischen mit einem schuldbewussten Achselzucken. Zwar hat Ministerpräsident Matteo Renzi in Rom anfangs Oktober 2014 die Abstimmung über die Arbeitsmarktreform im Senat gewonnen, doch um das zu erreichen, musste er deren zentrales Element – die Neuregelung des Kündigungsschutzes – auf später verschieben…
Das grosse Lamento
In anderen Ländern klingt es ähnlich, in Frankreich zum Beispiel ist der „Président de la République“ an der ganzen Misere schuld. Wird er abgewählt, trifft es den Nachfolger. Doch da stellen sich Fragen: Wollen die Franzosen überhaupt Reformen? Haben sie etwa Angst, ihre eigenen Privilegien zu verlieren? Tatsächlich verlieren sie ihre Konkurrenz- und Exportfähigkeit, während die Importe steigen.
Überall wird über die Jugendarbeitslosigkeit lamentiert. Gemäss Forschungsergebnissen der deutschen Regierung liegen die jährlichen Kosten der hohen Jugendarbeitslosigkeit bei 153 Milliarden Euro, die sich primär aus Sozialleistungen und entgangenen Steuereinnahmen zusammensetzen. Einen Beitrag dazu leistet sicher auch die von Deutschland diesen Krisenländern aufgezwungene Austeritätspolitik, die wirksame Investitionen verhindert. das ist kein gutes Zeugnis für die politische Elite. Keine rosigen Aussichten für die betroffene Jugend. Kein Zustand für „fortschrittliche“, westliche Demokratien.
Fehlende oder falsche Ausbildung
Gemäss Befunden der Arab Human Development Reports waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch 43% der Bevölkerung in den arabischen Ländern Analphabeten. Die Qualität der Ausbildung ist oft unzulänglich und bietet keine adäquate Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt.
Im EU-Raum gibt es mehr Studenten denn je. Während vieler Jahre wird studiert, längst ist die „Pension Mamma“ Normalfall. In Italien besitzen gemäss OECD 75% der Jugendlichen einen maturitätsähnlichen Abschluss. Auch Dreissigjährige sitzen als Studenten zuhause bei den Eltern. Die Akademisierungsfalle ist zugeschnappt. Bildungsrelevante Statistiken rügen Länder, in denen sich die Studentenquote unterdurchschnittlich bewegt. Ob da nicht der Begriff der Wissensgesellschaft falsch verstanden wird?
Oft brauchen Studenten Jahre, bis sie den Einstieg in die Erwerbswelt schaffen. Studienabgänger – vor allem der Geisteswissenschaften – melden sich für Arbeitslosengeld noch während des letzten Semesters. Trotzdem (oder maliziös: deswegen?) vermeldet McKinsey, dass ein Drittel der Arbeitgeber in Europa Probleme mit der mangelnden Qualifikation der Berufseinsteiger hätten. Ihre Ansprüche und die Fertigkeiten der Jugendlichen klaffen weit auseinander. Viele Jugendliche mit Hochschulbildung haben eine falsche Ausbildung, eine die nicht gebraucht wird.
Lieber Handwerker als Dr. Arbeitslos
Bezüglich Jugendarbeitslosigkeit steht die Schweiz mit 7% gut da. In seinem ausführlichen Beitrag in der NZZ am Sonntag weist Rudolf Strahm darauf hin, dass eben Maturitätsquoten (Schweiz 30%, Italien 75%) allein nicht entscheidend sind, wenn wir über Jugendarbeitslosigkeit sprechen. Wir sollten weniger über einen Akademikermangel reden, als über Mangelberufe. Natürlich haben wir zu wenig Mediziner, Mathematiker, Informatiker und Ingenieure. „Doch alle diese Mängel sind hausgemachte Engpässe – verursacht durch sektorspezifische Unterlassungen und das Laisser-faire in der Bildungspolitik“. Während 44‘000 Studenten 2012 an den Universitäten und der ETH Geistes- und Sozialwissenschaften studierten, zählte man in den Naturwissenschaften 24‘000.
Wenigstens im Westen können wir beurteilen und könnten wir beeinflussen, was falsch läuft. Auffällig ist, dass führende Politikerinnen und Politiker seit Jahren die zu hohe Jugendarbeitslosigkeit zwar öffentlichkeitswirksam beklagen. Das genügt bei weitem nicht. Und nicht genug damit: die lahmende Wirtschaft wird seit Jahren mit Geld der Notenbanken geflutet und die Zinsen bei null gehalten. Als würde die wundersame Geldschöpfung Arbeitsplätze schaffen. Längst ist erwiesen, dass dies keine Rettung bringt. Statt den Arbeitsmarkt zu liberalisieren, schikanöse Regeln und unkündbare Anstellungen abzuschaffen, verkrustete staatliche „Arbeitsparadiese“ radikal aufzubrechen, vertrauen viele Politexponenten auf ein Wunder: jenes des Gelddruckens. Beat Kappeler nennt diese Laisser-faire-Haltung unverblümt „ein Ruhekissen für Politiker“.
Berufe mit Zukunft
Lynda Gratton, Professorin für Management Practice an der London Business School befasst sich vertieft mit der Zukunft der Arbeit. Sie plädiert dafür, jene Berufe nicht zu vergessen, die elementare Dienste anbieten: Köche, Kellner, Gärtner, Pflegende, Handwerker als Beispiel. Sie widerspricht dezidiert den Beschwichtigungsrhetoriken der Politiker in den betroffenen Ländern und bestätigt, dass Jugendarbeitslosigkeit primär ein strukturelles Phänomen ist. Falsche Gesetze blockieren den überfälligen Wandel. Die Infrastruktur für industrielle Erneuerung fehlt, ebenso Ausbildungsstätten für Fachkräfte und Zentren für Start-up-Unternehmer.
Vor allem ist sie davon überzeugt, dass das Dreieck Unternehmer, Regierung und Arbeitnehmer besser funktionieren muss. Jobmöglichkeiten, Bildung und Lernende müssen verlinkt werden, damit Jugendliche sich keine falschen Illusionen über Berufsmöglichkeiten machen. Der Staat soll Signale aussenden: Seht, hier sind die Berufe mit Zukunft – Ingenieurwissen, Naturwissenschaften, Informationstechnologie, Medizin und, natürlich jene obgenannten, die elementare Dienste anbieten.
Bildet euch weiter!
Vergessen wir aber eines nicht: Viele Jobs, mit denen unsere Kinder dereinst ihren Lebensunterhalt verdienen werden, sind heute noch gar nicht bekannt. Was in der Schule gelernt und was später im Leben gebraucht wird, sind oft nicht dasselbe. Wenn wir also den Jugendlichen einen guten Rat mitgeben wollen: Bildet euch weiter! Bildet euch während der nächsten 40 Jahre weiter! Bleibt flexibel! Fokussiert euch auf eure eigene Entwicklung. Schaut euch um, wo neue Türen aufgehen. Und: was heute wie ein Traumberuf aussehen mag, wird vielleicht durch die IT bald zum Routinejob degradiert sein.
Wir können uns in der Schweiz auf die Schultern klopfen, die Situation sieht vergleichsweise gut aus. Nicht zuletzt deshalb, weil die Privatinitiative der Wirtschaft durch staatliche Eingriffe weniger behindert wird als anderswo. Tragen wir Sorge dazu, dass es so bleibe.