Die Warnung des Vorsitzenden des vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte machte Schlagzeilen. An einem Senatshearing erklärte General Joseph Dunford, Russland werde für die USA wieder zu einer „existenziellen Gefahr“. Dunfords Aussage wirft Fragen auf: Auf welche Fakten stützt sich der Vierstern-General, welches Russlandbild steckt in den Köpfen der obersten Führung der US-Streitkräfte und der in Washington für die Aussenpolitik zuständigen Schlüsselfiguren?
Unter Zugzwang
Die seit dem Ukraine-Konflikt stark unterkühlten Beziehungen zwischen Moskau und Washington nahm der deutsche Russland-Experte Ulrich Kühn (Universität Hamburg) zum Anlass, die entscheidende Frage zu stellen: Was weiss die für die Meinungsbildung verantwortliche Führungsschicht der USA über Russland? Nach seinen Recherchen kommt Kühn zu einem beunruhigenden Resultat: „Wichtige Segmente der für die US-Aussen-und Sicherheitspolitik verantwortlichen Führungsschicht verstehen das heutige Russland nicht mehr“ (Understanding Russia). Darum, so glaubt Kühn, fehle es Washington an einer klaren Strategie, wie mit Moskau umzugehen sei. Und dies wiederum erkläre, dass sich die US-Aussenpolitik von Moskau immer wieder unter Zugzwang setzen lasse.
Ein Beispiel dafür erleben wir in diesen Tagen. Nach der Annexion der Krim verkündete Washington, Russland mit Sanktionen wirtschaftlich und diplomatisch isolieren zu wollen. Inzwischen sind die Krim-Annexion und der Krieg im Donbass in den Hintergrund gerückt. Der Kriegsschauplatz in Syrien hat plötzlich Priorität und Russland erscheint als Partner wieder wichtiger als das Festhalten an angeblichen Prinzipien.
Zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Ulrich Kühn kommen ehemalige Mitarbeiter im aussenpolitischen Planungsstab der Obama Administration. Samuel Charap und Jerey Shapiro stellen fest, die öffentliche Diskussion über die aktuelle Krise finde auf einem „tiefen Niveau“ statt (Samuel Charap und Jerey Shapiro. The Ukraine-Crisis and the Missing Post-Cold War Bargain. December 2014). Dafür machen die Autoren fehlende Kenntnisse und Ausbildung der meinungsbildenden Elite in Politik, Medien und Wirtschaft verantwortlich.
In der Sowjetologie stecken geblieben
Dieser Befund provoziert die Frage: Was ist mit den „Russian Studies“ der führenden amerikanischen Universitäten passiert, wo die Spezialisten und Opinionleaders ausgebildet werden sollten ? Antwort gibt der Politologe Nicolai N. Petro, der vor kurzem als Fulbright-Stipendiat ein Jahr in der Ukraine forschen konnte. Petro stellt fest, die Mehrzahl der in der US-Aussen- und Sicherheitspolitik tonangebenden Experten sei noch zur Zeit des Kalten Krieges ausgebildet worden. Die „Sowjet-Studies“ seien von den Geheimdiensten und dem Militär finanziert worden und hätten intellektuell nie auf solider Basis gestanden. „Viele dieser Russland-Experten denken und sprechen immer noch so, als ob der Kalte Krieg nie zu Ende gegangen sei.“
Heute beginnen die „Russland-Studien“, kritisiert Petro, mit dem Zerfall der Sowjetunion, als ob die Jahrhunderte vor dem Kommunismus keine Bedeutung hätten. Weil sich Russland früher oder später nach westlichen Modellen entwickeln werde, so die in den USA vorherrschende Meinung, gelte das post-sowjetische Russland als eine „Gesellschaft im Übergang“ (Transitionology). Journalisten, Politiker und Forscher seien nicht in der Lage, das gegenwärtige Russland zu verstehen, weil sie ein falsches Bild von Russland nach dem Ende des Kommunismus erhalten hätten. Petro glaubt, in den USA müsse der Übergang von der Sowjetologie zu „Russian-Studies“ erst noch stattfinden. Die gegenwärtige Krise zwinge dazu, sich endlich seriös mit Russland zu beschäftigen.
Und nebenbei stellt der ehemalige Fulbright–Stipendiat die wichtige Frage, wer die neue Russland Forschung und Lehre finanzieren werde. Das US-Parlament hat nach dem Ende des Kalten Krieges die Finanzierung von Russland-Programmen stark gekürzt. Heute fehle an den amerikanischen Universitäten eine neue Generation von Experten für Russland, Ex-Sowjetunion und Eurasien.
Diskussion über Russland-Berichterstattung
Petro fordert eine schon lange überfällige Diskussion über das Image von Russland in den Medien der USA und des Westens. Der meteorhafte Aufstieg des russischen Fernsehsenders RT (ehemals Russia Today) zu einem TV-Netzwerk mit einer Zuschauergemeinde von weltweit rund 700 Millionen sei nicht einfach als eine vom Kreml finanzierte Propagandamaschine zu erklären. Vielmehr dränge sich die Frage auf, warum so viele Menschen in den USA und in Europa nach alternativen Informationen über Russland suchten. Offensichtlich gibt es, so Petro, eine Glaubwürdigkeitslücke zwischen dem von westlichen Medien vermittelten Russlandbild und dem realen Russland. Diese Lücke zu überbrücken, wäre eine wichtige Aufgabe von „Russian-Studies“ an den Universitäten. Die geplanten Projekte in Brüssel und Washington, dem Kreml mit Gegenpropaganda zu begegnen, führen nach Ansicht Petros in eine Sackgasse.
Und was weiss Putin über die USA?
Ein breites Feld für „Russian-American Studies“ öffnen Fiona Hill und Clifford G.Gaddy. In ihren Studien über Putin und den Kreml (Mr.Putin, Operative in the Kremlin. Brookings Institution 2013.) warnen sie amerikanische Politiker: „Erwartet nicht, dass der Gegner in ähnlichen Umständen gleich denkt und handelt wie wir. Solche Spiegelbilder führen zu Fehlkalkulationen.“ Vielmehr sollten sich die Amerikaner fragen, wie Putin und seine Berater die USA sehen und interpretieren. „Folgt Putin den Ratschlägen seiner Berater oder nimmt er einfach an, die Amerikaner, Präsident Obama einbegriffen, werden so agieren und reagieren wie er selber? Oder ist es ihm egal, was die Amerikaner denken, was ihre Motive und Werte sein könnten, wie ihr System funktioniert? Was weiss Putin effektiv über die USA und die Amerikaner?“ Die Autoren Hill und Gaddy sind der Überzeugung: Putin weiss „sehr wenig“. Der russische Präsident ist also in der Amerika-Politik von Beratern wie Aussenminister Sergei Lawrow abhängig. Lawrow ist sicher keine Taube, gilt aber wegen seiner jahrzehntelangen Erfahrung als pragmatischer Falke. Der fliessend englisch sprechende Aussenminister war viele Jahre Botschafter an der Uno in New York. Und der alte Fuchs kennt das amerikanische System - wahrscheinlich besser als sein Gegenspieler John F. Kerry das russische System.
Auch Hill und Gaddy kritisieren die Russland-Berichterstattung in den US-Medien. Vieles, was über Putin berichtet werde, basiere nicht auf Fakten. Putin werde nur schon deshalb regelmässig eine antiamerikanische Haltung unterschoben, weil er ein ehemaliger KGB-Agent gewesen sei. Das entspreche aber nicht den Tatsachen. Als stellvertretender Bürgermeister und Verantwortlicher für Aussenbeziehungen der Stadt St.Petersburg habe Putin mit vielen Amerikanern Kontakt gehabt. Putin habe seine Meinung gegenüber den USA erst später zu ändern begonnen. Eine eigentliche Zäsur in Putins Haltung und vieler anderer Russen auch sei erfolgt, als 1999 die Nato ohne ein Mandat der Uno Serbien zu bombardieren begonnen habe (The American Education of Vladimir Putin. www.theatlantic. Feb.16. 2015) .
Was machen die USA falsch?
Bereits 1994 machte Henry Kissinger in seinem Buch „Diplomacy“ auf einen Widerspruch in der US-Aussenpolitik aufmerksam. Nach dem Ende des Kalten Krieges habe Washington das Ziel verfolgt, Russland in das „internationale System“ zu integrieren, das nur noch von einer Supermacht, den USA, dominiert werde. In Wirklichkeit erfolge das Gegenteil. Kissinger stellt fest, mit ihrer Politik würden die Amerikaner Russland nicht integrieren sondern ausstossen.
Warum? Auf diese Frage antwortet Wladimir Lukin, ein bekannter ehemaliger russischer Botschafter in Washington: „Die Amerikaner haben eine simple Ideologie: Es gibt nur eine Wahrheit und die kommt von Gott. Und weil Gott die USA geschaffen hat, verkörpert Amerika die Wahrheit. Deshalb ist es die Mission der Amerikaner, diese Wahrheit der übrigen Welt zu überbringen und sie glücklich zu machen.“ Lukins Zitat stammt aus einem Interview, das in einer Publikation erschienen ist, die das Denken von Russlands aussenpolitischer Führung widerspiegelt. Lukin ist kein antiamerikanischer Hardliner. Er gehört zu den Mitbegründern der liberalen Oppositionspartei Yabloko und ist in vielen Belangen ein Kritiker Putins.
Multipolare Welt
Lukins Position erklärt aber, warum heute auch russische Demokraten Putin unterstützen. Nach den schwachen Kremlchefs Gorbatschow und Jelzin wagte Putin als erster russischer Präsident, den USA die Stirn zu bieten. Amerika ist nicht mehr die alleinige Supermacht, wir leben in einer multipolaren Welt, heisst die Doktrin in Moskau.
Gibt es einen Weg zu einer neuen russisch-amerikanischen Entspannung? Zur Beantwortung dieser schwierigen Frage lässt Nicolai Petro den bekannten amerikanischen Historiker James H.Billington zu Wort kommen. Der 2004 verstorbene Billington, der sich auch als Russlandkenner einen Namen gemacht hat, stellt eine grundsätzliche Frage: Sind die Amerikaner in der Lage, sich mit anderen Kulturen ernsthaft auseinanderzusetzen? Billington: „Wenn es den Amerikanern nicht gelingt, sich in den inneren, geistigen Zustand von anderen Völkern zu versetzen, dann werden sie nie fähig sein, die grossen Umwandlungen, die treibenden Kräfte der Geschichte zu verstehen, zu antizipieren und auf sie einzuwirken. Es sieht ganz danach aus, dass wir von den Kräften der Geschichte auch künftig wie von unerwarteten Fallen überrascht werden.“