Die USA blockieren Versuche, ihren Drohnenkrieg in Afghanistan aufzuarbeiten. Whistleblower werden rigoros abgestraft. Dabei waren offenbar bis zu 90 Prozent der Drohnenopfer Zivilisten. Interessen der Rüstungsindustrie und die Spirale von Bedrohung und Aufrüstung lassen keine Selbstkritik zu. So versäumen es die USA nach dem Abzug aus Afghanistan, zumindest moralisch unangreifbarer zu werden.
Am 30. August 2021 kurz vor Mitternacht ging für Amerika nach zwanzig Jahren der Krieg in Afghanistan zu Ende. Ein letzter C17-Transporter der US Air Force hob in Kabul vom Flughafen Hamid Karzai ab. Der Abzug zuvor war unkoordiniert und überstürzt verlaufen, nicht zuletzt auch deshalb, weil 170 Afghanen und 13 amerikanische Soldaten, die den Airport bewachten, vier Tage zuvor bei einem Selbstmordanschlag des lokalen Ablegers des Islamischen Staates (IS-K) getötet worden waren.
Die Reaktion der abziehenden Grossmacht liess nicht lange auf sich warten. Am 29. August griffen die USA mit einer bewaffneten Drohne mitten in Kabul einen weissen Toyota Corolla an, in welchem sie einen IS-Terroristen vermuteten, und töteten gezielt Zemari Ahmadi, den Fahrer des Autos. Das Pentagon sprach von einem «gerechten Angriff», denn er habe einen weiteren Terroranschlag verhindert.
Nach dem Drohnenangriff vom 29. August in Kabul, dem nach Recherchen der «New York Times» einzig Zivilisten zum Opfer fielen, sprachen US-Offizielle von einer «schrecklichen Kriegstragödie».
Akribische Recherchen der «New York Times» ergaben jedoch, dass bei der Drohnentattacke zehn Zivilisten, unter ihnen sieben Kinder, ums Leben gekommen waren. Der Fahrer des Toyotas, Angestellter einer US-Hilfsorganisation, war unschuldig. Nun sprachen das Pentagon und das Weisse Haus öffentlich von einer «schrecklichen Kriegstragödie».
Anfang November hat das US-Verteidigungsministerium eine einseitige Zusammenfassung des als geheim eingestuften Untersuchungsberichts zum Vorfall veröffentlicht. Wenig überraschend gelangt der Report zur Schlussfolgerung, die Attacke sei kein Fall von «krimineller Fahrlässigkeit» und niemand deshalb persönlich zur Verantwortung zu ziehen.
Der Umstand, dass auf dem Drohnenvideo kurz vor dem Angriff ein Kind zu sehen gewesen sei, könne als Folge des Nebels des Krieges gedeutet werden. Am Ende seien die Piloten der Drohne überzeugt gewesen, den US-Truppen hätte «unmittelbare Gefahr» gedroht. Der Angriff, räumte der Generalinspektor der Air Force ein, sei zwar ein Fehler, aber kein Verbrechen gewesen.
Die Erklärung hat System. Drohnenangriffe, bei denen im Krieg gegen den Terror in Afghanistan unschuldige Zivilisten ums Leben gekommen sind, hat es bereits unter den Präsidenten Barack Obama und Donald Trump gegeben. Näher untersucht wurden sie kaum je. Unter Joe Biden dürften sie weitergehen, denn nach dem Terroranschlag auf den Kabuler Flughafen liess er an die Adresse von IS-K verlauten: «Wir sind mit euch noch nicht fertig.»
Bis heute ist es amerikanischen Regierungen stets gelungen, das Drohnenprogramm vor allzu viel Neugier oder Einsichtnahme abzuschirmen. Zwar sind wiederholt entlarvende Informationen an die Öffentlichkeit gedrungen, jedoch wie jüngst nach der Attacke in Kabul stets ohne Konsequenzen. 2015 zum Beispiel wurde der Website «The Intercept» ein Dokument zuspielt, wonach während einer Periode von fünf Monaten neun von zehn Opfern von Drohnenangriffen in Afghanistan Zivilisten gewesen waren.
Für die Medien ist es nicht zuletzt deshalb schwierig, solche tödlichen Attacken konkret zu hinterfragen, weil sich die US-Armee strikt weigert, mit den Informationen oder Einschätzungen herauszurücken, auf denen sie jeweils beruhen. Fakt ist auch, dass die Regierung Biden fortfährt, Whistleblower aggressiv zu verfolgen, die enthüllen, wie viele Unschuldige bei Angriffen aus der Luft getötet werden.
Armeeveteran Daniel Hale zum Beispiel hat solche Dokumente zugänglich gemacht; er ist wegen Geheimnisverrats zu vier Jahren Haft verurteilt worden und sitzt abgeschirmt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Marion (Illinois). Und nach wie vor fordert das Weisse Haus von Grossbritannien, Wikileaks-Gründer Julian Assange, der mutmassliche Kriegsverbrechen Amerikas im Irak enthüllte, an die US-Justiz auszuliefern.
Mitte Monat hat die «New York Times» nach aufwändigen Recherchen aufgedeckt, dass am 18. März 2019 bei einem amerikanischen Luftangriff auf Kämpfer des Islamischen Staates in der Nähe der syrischen Stadt Baghuz nicht nur 16 Angehörige der Terrormiliz, sondern auch 64 Zivilisten, unter ihnen Frauen und Kinder, getötet worden sind. Task Force 9, eine klassifizierte Einheit der US-Armee, hatte die Attacke der F-15 ohne Wissen höherer Stellen angefordert.
Auch in diesem Fall hat die US Central Command die Zeitung wissen lassen, der Luftangriff bei Baghuz sei gerechtfertigt gewesen, obwohl selbst ein Armeejurist im Range eines Oberstleutnants vor Ort von einem möglichen Kriegsverbrechen sprach und eine Untersuchung des Vorfalls forderte. Eine solche aber hat es bis heute nicht gegeben und auch der US-Kongress hat es versäumt, eine zu fordern. Doch Anfang Woche hat Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III nach Lektüre des «Times»-Artikels zumindest ein Briefing in dieser Sache angeordnet.
Immerhin fühlte sich ein Sprecher des Vorsitzenden des Militärausschusses im Senat gegenüber der «Times» zu folgender Aussage bemüssig: «Wenn es auf dem Schlachtfeld zu tragischen Irrtümern kommt, haben die USA als Führer der freien Welt eine Verpflichtung, transparent zu sein, Verantwortung zu übernehmen und alles zu unternehmen, um daraus zu lernen und künftige Fehler zu vermeiden.»
US-Militär und -Rüstungsindustrie sind so mächtig, dass sie den Forderungen nach Transparenz nicht nachgeben müssen.
Doch die Geschichte des amerikanischen Drohnenkriegs zeigt, dass diese Äusserung nicht viel mehr als wohlfeile Augenwischerei ist. Das US-Militär und die mit ihm verbandelte Rüstungsindustrie sind als Institutionen im Lande viel zu mächtig und zu einflussreich, als dass sie glaubten, es sich leisten zu müssen, Schwäche oder auch nur Transparenz zu zeigen.
Das Budget des Pentagon für 2022 sieht Ausgaben von 740 Milliarden Dollar vor und dürfte sich, über das nächste Jahrzehnt extrapoliert, auf insgesamt mehr als sieben Billionen Dollar belaufen. Das ist mindesten vier Mal mehr als das grosse Sozialprogramm «Build Back Better», das Präsident Joe Biden im Kongress verabschiedet sehen möchte. Vorschläge, das Militärbudget zu kürzen, haben auch im von Demokraten beherrschten Parlament in DC nicht die geringste Chance.
Zwar neige sich der Krieg gegen den Terror dem Ende zu, argumentieren Befürworter eines starken US-Militärs. Doch für Amerika stehe die nächste Bedrohung bereits vor der Tür: ein aggressives China, das unlängst bekanntgegeben hat, eine Hyperschallwaffe entwickelt zu haben. Die Einwände, dass die Volksrepublik zwei Drittel weniger für ihr Militär ausgibt als die Vereinigten Staaten oder dass Experten anzweifeln, ob solche Waffen tatsächlich funktionieren, überzeugen die Befürworter der Aufrüstung nicht. In den 1960er Jahren soll ein Waffenentwickler des Pentagon Neulingen seiner Abteilung verraten haben, sie würden «Waffen entwickeln, die nicht funktionieren, um Bedrohungen zu begegnen, die nicht existieren». Auf Killerdrohnen trifft offenbar nur der zweite Teil der Feststellung zu. Sie funktionieren zu tödlich.