Gut acht Jahre haben die Sozialisten regiert. Vor der Parlamentswahl am 10. März zeichnet sich ein Rechtsruck ab, aber keine Klarheit für die nächsten vier Jahre. In einem polarisierenden Wahlkampf wackelt derweil ein alter Grundkonsens über die Einwanderung. Im Land wird nach dieser Wahl womöglich nichts mehr so sein wie vorher.
Portugal hat sich jahrzehntelang als ein offenes Land verstanden. Mehr noch, in der Frage der Einwanderung bestand ein Grundkonsens zwischen praktisch allen wichtigen Parteien, der aber zu bröckeln scheint. Lautstark warnt die noch rechtsextrem-xenophobe Partei Chega vor islamistischen Gefahren, um Quoten für die Einwanderung zu fordern. Angesichts der neuen Konkurrenz von ganz rechts will sich der bürgerliche Partido Social Democrata (PSD), in den letzten Jahren stärkste Oppositionspartei, nicht ganz querstellen.
Rechte Rivalitäten
Im Kampf um Stimmen bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 10. März sorgte kürzlich der frühere PSD-Vorsitzende und Premierminister der Jahre 2011–15, Pedro Passos Coelho, für Überraschung, dies aus gleich zwei Gründen. Erstens, weil er überhaupt auftrat, steht sein Name doch für einen unpopulären Kurs der Austerität und damit für eine Linie, von der sich seine Partei zu distanzieren versucht. Zweitens suggerierte er, dass ein Zusammenhang zwischen der – stark wachsenden – Immigration und der Unsicherheit im Land bestehe. Portugal brauche die Immigration, räumte er bei einer Kundgebung ein, er machte diese aber für ein Gefühl der Unsicherheit verantwortlich. Fachleute bestreiten, dass zwischen Einwanderung und Unsicherheit ein Zusammenhang bestehe. Wollte Passos Coelho «nur» den lästigen Rivalen von rechtsaussen die Wählerschaft streitig machen? Oder ihr vielleicht eine Hand reichen?
Gut acht Jahre lang, seit November 2015, hat in Lissabon der Partido Socialista (PS) unter dem im letzten November zurückgetretenen Ministerpräsidenten António Costa regiert. Nun will der PSD wieder ans Ruder, unter Führung des 51-jährigen Juristen Luís Montenegro, der mit zwei kleineren alteingesessenen rechten Parteien die Wahlallianz «Aliança Democrática» geschmiedet hat. Weil sie realistischerweise kaum auf eine absolute Mehrheit im Parlament hoffen kann, räumt Montenegro ein, dass er mit der noch jungen «Iniciativa Liberal» (IL) koalieren könnte. Aber das dürfte nicht zur Mehrheit reichen. Mit der Partei Chega, die auf gut 15 bis 20 Prozent der Stimmen hoffen kann, will Montenegro keine gemeinsame Sache machen – das sagt er jedenfalls vor der Wahl. Chega-Führer André Ventura träumt derweil schon von einer Revolte innerhalb des PSD, falls ihr Führer das «Angebot» seiner Partei zum Eintritt in die künftige Regierung des Landes und damit zur Bildung einer rechten Mehrheit verschmäht.
Ärger über Sozialisten, aber Ängste vor Rechtsruck
Im Falle eines rechten Wahlsieges könnte nicht nur der Grundkonsens über die Einwanderung wackeln. Zur AD gehört unter anderem auch das schon 1974 gegründete Centro Democrático Social (CDS). Aus seinen Reihen kam dieser Tage der Ruf nach einer Einschränkung des Rechtes auf den straffreien Schwangerschaftsabbruch, den das Stimmvolk 2007 bei einem Referendum gebilligt hatte. Frankreich will das Recht auf Abtreibung in der Verfassung festschreiben. Sollten in Portugal wieder Pfuscher auf ihre Stunde hoffen dürfen?
Die AD gibt sich insgesamt gemässigt. Sie will die – unter Passos Coelho geschröpften – Rentner besserstellen und Anreize schaffen für junge Leute, die Passos Coelho in die Emigration getrieben hatte. Steuerentlastungen für Unternehmen sollen die Wirtschaft stimulieren – in der Hoffnung, dass in der Folge die Saläre steigen. AD verspricht nicht zuletzt auch, zunehmend chaotischen Zuständen im staatlichen Gesundheitswesen und anderen Unzulänglichkeiten im öffentlichen Bereich zu Leibe zu rücken. Gross ist im Land Unzufriedenheit, die hier mit Resignation, dort mit Ängsten vor einem Rechtsruck einhergeht.
Die Quadratur des Kreises und viel Chaos
Die Sozialisten waren Ende 2015 mit dem Versprechen angetreten, das Blatt der Austerität zu wenden. Und ihnen gelang, was wie die Quadratur des Kreises erschien. Sie nahmen die in den vorherigen Jahren erfolgten Kürzungen der Saläre im öffentlichen Dienst wie auch Steuererhöhungen zurück, was der Stimmung im Lande zugute kam. Sie überraschten Skeptiker, indem sie das Staatsdefizit trotz weniger Austerität nach EU-Vorgaben drückten. Im Jahr 2023 dürfte Portugal gar einen Haushaltsüberschuss erzielt haben. Und das Staatsdefizit, das zweitweise fast 140 Prozent des BIP erreicht hatte, ist auf knapp unter 100 Prozent gefallen – was prompt den Beifall der Rating-Agenturen fand.
Mit diesem Glanz kontrastieren aber arge Unzulänglichkeiten und Engpässe im Bereich der öffentlichen Dienste, nicht nur im Bereich der Gesundheit, wo immer wieder Notaufnahmen wegen Ärztemangel vorübergehend schliessen müssen. An den Schulen werden die Lehrkräfte knapp, nachdem jahrelang viele Hochschulabgänger vergeblich auf Planstellen gehofft hatten. Für heftigen Wirbel sorgten in den letzten Wochen grosse Demonstrationen von Angehörigen der Polizeikräfte für eine bessere Bezahlung ebenso wie Strassenblockaden der Landwirte, nach französischem Vorbild. Völlig überfordert war die letzte Regierung mit der sich zuspitzenden Wohnungsnot, aber diese hielt die Regierung nicht davon ab, digitale Nomaden ins Land zu locken und sich über einen touristischen Rekord nach dem anderen die Hände zu reiben. Portugal ist immer weniger ein Land für Portugiesen. Ein «Observatorium der Emigration» kam kürzlich zum Schluss, dass in den letzten 20 Jahren 15 Prozent der Bevölkerung ausgewandert seien.
Die absolute Mehrheit verspielt
In den ersten Jahren von Ministerpräsident Costas Regierungszeit schien alles noch relativ glatt zu laufen. Costas Minderheitsregierung war im Parlament auf die Tolerierung oder Unterstützung durch kleinere linke Parteien angewiesen, und diese Regierung hielt volle vier Jahre. Eine zweite PS-Minderheitsregierung musste ohne feste Partner auskommen und hielt nur relativ kurz. Im Januar 2022 bekamen die Sozialisten bei einer vorgezogenen Wahl völlig überraschenderweise die absolute Mehrheit, und Costa wollte sein Volk mit den absoluten Mehrheiten aussöhnen, aber diese Chance hat er eklatant verspielt. Seine Regierung machte vor allem mit Affären, Verschleiss und über einem Dutzend Abgängen aus der Regierung – eine Ministerin, zwei Minister sowie diverse StaatssekretärInnen – von sich reden. Costa trat zurück, nachdem sein Name – aufgrund einer peinlichen Verwechslung, wie sich herausstellte – in Verbindung mit einer Affäre um mutmassliche Korruption gefallen war.
Costas Regierung verlor unter anderem ihren Minister für Infrastruktur und Wohnungswesen, den jetzt 46-jährigen Ökonomen Pedro Nuno Santos vom linken Flügel der Partei, der mittlerweile zum Generalsekretär seiner Partei und zu ihrem Spitzenkandidaten aufgerückt ist – und wie ein Traumtänzer wirkt. Man rechnet ihn zur «esquerda caviar», zur Kaviar-Linken. Er entstammt eine Familie mit einer Fabrik, die Ausrüstungen für die Schuhindustrie produziert. Santos besass einmal einen Porsche, den er jedoch verkaufte, weil er fand, dass dies nicht zu seinem linken Image passte. Er pflegte jahrelang indes das Image des Enfant terrible, auch als Minister. Im Sommer 2022 sorgte er für Aufsehen, als er nach langem Gezerre um die Lokalisierung eines neuen Flughafens für Lissabon kurzen Prozess machen wollte. Er verkündete per Erlass den Bau von gleich zwei neuen Flughäfen. Costa wusste von nichts und pfiff ihn zurück. Santos stolperte letztlich über eine Affäre um die staatliche Airline TAP.
Debatten wie Fussballspiele?
Klare Verhältnisse nach der Wahl zeichnen sich nicht ab. In manchen Umfragen hat die AD die Nase vorn, in anderen die Sozialisten. Letztere könnten sich, wenigstens theoretisch, wie schon 2015 irgendwie mit Linksblock, Kommunisten und der kleinen EU-freundlichen linken Splitterpartei Livre verbünden. Ob es zur absoluten Mehrheit reicht, ist fraglich. Santos sagte schon, dass seine Partei im Parlament keinen Antrag auf Ablehnung des Programms einer AD-geführten Minderheitsregierung stellen werde (eine Abstimmung über das Regierungsprogramm erfolgt nur, wenn eine Partei dies fordert), um die AD nicht in die Arme von Chega zu treiben. Spätestens bei der Abstimmung über das Staatsbudget 2025 dürfte aber die Stunde der Wahrheit schlagen. AD-Spitzenkandidat Montenegro hat noch nicht verraten, ob er mit einer ähnlichen Haltung den Sozialisten die Bildung einer Regierung ermöglichen würde.
Bei all dem dominiert im Land der Verdruss. Einen Anteil daran haben auch die Medien. Sie bombardieren das Publikum wieder einmal mit Umfragen, obwohl das Ergebnis der Parlamentswahl 2022 die Demoskopen in Erklärungsnot gebracht hatten. Sie hatten PS und PSD teils in einem Patt mit je klar unter 40 Prozent gesehen. Sie dürften zahlreiche Wähler von kleineren linken Parteien aus Angst vor einer von Chega abhängigen PSD-Regierung dazu bewogen haben, die Sozialisten zu wählen und hatten diesen damit zur absoluten Mehrheit verholfen.
In den Wochen vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes (am 14. Tag vor der Wahl) sendeten TV-Anstalten eine Reihe von Debatten zwischen den Spitzenkandidaten der acht im Parlament vertretenen Parteien, meist mit einer Dauer von wenig mehr als einer halben Stunde, bei denen im Eifer des Gefechts die Hasstiraden an die Stelle der Argumente traten. Vor den Debatten hatten die Kommentatoren das Wort und hinterher wieder. Es war fast wie vor und nach Fussballspielen. Aber auch Bräuche aus der Welt des Fussballs können für Verdruss sorgen.