Was ein Kunstsammler macht, ist klar. Das Wort sagt es deutlich. Bei der Frage, was ein Kunstsammler oder eine Kunstsammlerin ist, wird es komplizierter – und interessanter.
Das obenstehende Bild Giovanni Giacomettis kann zur Beantwortung der Frage einiges beitragen. Es zeigt den Winterthurer Sammler E. Richard Bühler (1879–1967) auf dem Silsersee beim Segeln mit seinem Boot. Seit einigen Jahren ist er mit dem in Stampa im Bergell lebenden Maler befreundet. Die Beziehung ist von grosser, selbstverständlicher Vertrautheit. Bühler ist auf dem Bild entspannt, lässig am Steuerruder sitzend, dabei stilvoll gekleidet wie immer, die Krawatte nicht gelockert, den noblen Strohhut neben sich gelegt, Wind in den Haaren.
Giacometti hat das Bild ohne Auftrag gemalt. Es ist der künstlerische Reflex einer Freundschaft, die in solchen Segelpartien einen dichten Ausdruck findet. Man verbringt viel Zeit miteinander, schweigt oft lange, sieht sich an der Berglandschaft satt, man lauscht dem Wind in der Takelage und dem Gurgeln des Wassers an der Bootswand. Der Maler ist in dem Bild unsichtbar, aber nachdrücklich mit im Boot. Denn trotz der Lokalisierung auf offenem Wasser ist die Szene intim, und Intimität gibt es nur zwischen Zweien.
Richard Bühler hat sich am Silsersee ein Haus bauen lassen. Damit nicht genug: Um seiner Segelleidenschaft frönen zu können, hat er von Hamburg ein Boot nach St. Moritz (die Bahnlinie wurde schon 1904 eröffnet) und von dort mit dem Vierspänner nach Sils überführt. Als Spross einer Industriellenfamilie – die traditionsreiche Hermann Bühler AG betreibt die letzten grossen Spinnereifabriken in der Schweiz – kann er sich solche Extravaganzen leisten. Wollte man ihn einem Mentalitätstypus zuordnen, so bieten sich die Kategorien des Snobs und des Dandys an.
Doch so richtig wollen diese Typisierungen auf Richard Bühler nicht passen. Er ist für einen Dandy zu ernsthaft, für einen Snob zu leidenschaftlich. Sein Lebensthema ist der kämpferische Einsatz für die neue Malerei. Er sammelt Bilder nicht einfach, um sich an deren Besitz zu erfreuen, sondern um avantgardistische Künstler zu fördern und ihrer Kunst öffentliche Beachtung und Anerkennung zu verschaffen.
Um 1900 bestimmt die sogenannt «akademische» Malerei die gängige Kunstauffassung und den allgemeinen Geschmack. Gemälde müssen je nachdem heroisch, bedeutungsschwer, anmutig, lieblich sein. Sie repräsentieren Macht, verschaffen sozialen Status und verkörpern anerkannte Werte – dies nicht zuletzt durch ihre handwerklich versierte, «kunstvolle» Machart. Einer Mode dieses Akademismus folgend, sind die Bilder oft in tiefes Dunkel getaucht und situieren Personen und Objekte in einem düsteren Nirgendwo.
Das an diese Bildwelt gewöhnte Publikum reagiert auf «die Neuen» grösstenteils mit vehementer, ja wütender Ablehnung. Ferdinand Hodlers Fresken-Entwürfe für das Landesmuseum lösen einen mehrjährigen Kunstskandal aus, der schliesslich vom Bundesrat zugunsten Hodlers entschieden wird. Félix Vallottons Akte gelten als als aufreizend und sittenwidrig und werden in den Giftschrank verwiesen. In der freien Farbigkeit eines Giovanni Giacometti oder im nervösen Pinselduktus und der die Zentralperspektive auflösenden Raumordnung eines Pierre Bonnard sehen die meisten bloss eklatante Verstösse gegen den geltenden Kanon. Das Prädikat «Kunst» wird diesen Werken mit Entschiedenheit verweigert.
Zurück zu Richard Bühler und seinem leidenschaftlichen Engagement für die moderne Malerei. Wie seine Cousine Hedy Hahnloser und ihr Mann Arthur beginnt er ab etwa 1905 sich ernsthaft für zeitgenössische Malerei zu interessieren und kauft erste Bilder von Giacometti und Hodler. Der in Paris wirkende Winterthurer Maler Carl Montag vermittelt Kontakte zu Félix Vallotton, Pierre-Auguste Renoir, Pierre Bonnard, Édouard Vuillard, Albert Marquet und anderen. Bühler und die Hahnlosers treffen sich mit einem kleinen Kreis von Gleichgesinnten regelmässig beim Dienstagskaffee in der Villa Flora. Das Haus der Hahnlosers wird zum Treffpunkt von Künstlern und Kunstliebhabern und zur Brutstätte eines kunstpolitischen Aufbruchs, welcher in dem «gloriosen Jahrzehnt» das kleine Winterthur auf das Niveau einer Kunststadt von internationalem Rang katapultieren sollte.
Die dienstägliche Kaffeerunde in der Flora nimmt bald konspirativen Charakter an. Der angestrebten Öffnung des Kunstbetriebs steht der von einem Altherren-Vorstand in kulturpolitischen Tiefschlaf versetzte Winterthurer Kunstverein im Weg. Hedy Hahnloser und Richard Bühler sind die treibenden Kräfte, die hier eine Palastrevolution in die Wege leiten. 1907 gelingt, nachdem kurz zuvor mit dem Architekten Robert Rittmeyer und dem Kaufmann Georg Reinhart bereits zwei aufgeschlossene Persönlichkeiten in den Vorstand des Kunstvereins eingezogen sind, der Coup: Dank sechs Rücktritten und der Wahl von Richard Bühler und Arthur Hahnloser sowie vier weiteren jüngeren Männern haben nun die Neuerer das Sagen.
Der neugewählte Vorstand verliert keine Zeit. An einer seiner ersten Sitzungen kommt der Neubau eines Kunstmuseums zur Sprache. Richard Bühler setzt sich energisch dafür ein, und schon im Jahr darauf beginnt dank einer Spende von 100‘000 Franken die Planung. Rittmeyer, der sich aus dem Vorstand zurückgezogen hat, gewinnt mit seinem Partner Furrer den Architekturwettbewerb für das neue Gebäude, in dem Kunstmuseum, Naturhistorische Sammlung und Stadtbibliothek grosszügig Platz finden werden. 1913 übernimmt Bühler das Präsidium des Kunstvereinsvorstands und mitten im grossen europäischen Krieg, 1916, weiht Winterthur sein stolzes Museum ein.
Das ist in jeder Hinsicht aussergewöhnlich: Es ist entschieden nicht die Zeit der grossen Kulturinvestitionen. In Winterthur schon gar nicht. Die Stadt hat sich mit einem grandios gescheiterten Eisenbahnprojekt in den 1880er-Jahren katastrophal verschuldet und bleibt bis 1950 mit der Rückzahlung belastet. In der finanziell klammen Stadt mit gerade mal 45'000 Einwohnern ein solches Projekt gestemmt zu haben, wird später zu Recht «das Wunder von Winterthur» genannt. Das neue Museum entsteht nicht nur dank privater Initiative, es wird auch zu grossen Teilen privat finanziert. Und nicht nur das: Auch die Sammlung und der Ausstellungsbetrieb beruhen in der Folge überwiegend auf Schenkungen und Leihgaben der Winterthurer Sammler. Es sind namentlich die Reinharts, die Hahnlosers und Richard Bühler, die dem neuen Kunstmuseum zu Glanz und Ausstrahlung verhelfen.
Ein Konkurrenzverhältnis zwischen einerseits Vater und Söhnen Reinhart sowie andererseits dem Flora-Kreis der Hahnlosers und Richard Bühlers kommt dem Museum zugute. Da die beiden wichtigen Kunst-Clans der Stadt nicht die gleichen Präferenzen pflegen, versucht jeder von ihnen, das Museum mit Schenkungen und Leihgaben im eigenen Sinn zu prägen – was jeweils die Gegenseite veranlasst, das Gewicht der eigenen Favoriten wieder mit neuen Vergabungen zu stärken. Das Museum profitiert prächtig von diesem friedlichen Wettstreit und wird landesweit zur ersten Adresse für moderne französische Kunst. Eine Ausstellung von 1991 unter dem Titel «Das gloriose Jahrzehnt» über die Zeit von 1910 bis 1920 hat der in Winterthur bis heute nachwirkenden Periode den einprägsamen Namen gegeben.
Die gegenwärtige Ausstellung im Reinhart Museum am Stadtgarten erzählt diese Geschichte mit über siebzig Werken, die einst zur «Sammlung Richard Bühler» gehörten. Deren genauer Bestand ist nicht bekannt; sie war aber zweifellos wesentlich grösser. Als die Spinnereifabriken der Familie in der Wirtschaftskrise der 30er-Jahre vor dem Zusammenbruch standen, musste Bühler seine Bilder zu Geld machen. Viele davon sind nicht mehr auffindbar; die nun in Winterthur gezeigten hat das Kuratorenteam in detektivischer Arbeit in Museen und bei Privaten aufgespürt.
Die Schau macht deutlich, was den jungen Bühler dermassen gepackt und begeistert hat, dass er – neben der Ko-Leitung der Fabrik mit seinem Bruder – buchstäblich alles gegeben hat, um sich für diese damals ganz neuartige Kunst einsetzen zu können. Winterthur lebt kulturell hundert Jahre danach noch immer von der glücklichen Konstellation, dass gleich zwei starke private Gruppierungen die Initiative ergriffen und der Stadt einen Platz auf der Landkarte der Weltkultur verschafft haben.
Kunst Museum Winterthur | Reinhart am Stadtgarten: Modernité. Renoir, Bonnard, Vallotton. Der Sammler Richard Bühler, 3.10.2020–20.2.2021, kuratiert von Andrea Lutz und David Schmidhauser
Katalog erschienen bei Hirmer