„Die vielgescholtenen Sachsen sind nicht rechts, sondern sie wollen, dass Pirna nicht zum Problembezirk mit Parallelgesellschaften wird wie etwa Berlin-Neukölln“, so war es unlängst in der NZZ zu lesen. Warum der Verfasser gerade Pirna, jene sächsische Kleinstadt, die in jüngster Vergangenheit durch einige üble Attacken gegen Ausländer in den Blickpunkt geriet, als Referenz auswählt, bleibt im Dunkeln. Auch erklärt er nicht, warum gerade in Ostdeutschland der Neonationalismus so viel Anklang findet, warum die Menschen dort ganz offensichtlich so grosse Probleme im Umgang mit Fremden haben.
Dabei sind die Gründe dafür bekannt. Auf die Euphorie über den Zusammenbruch ihrer über Jahrzehnte als allmächtig erfahrenen Staatsmacht und dem Glauben an die versprochenen „blühenden Landschaften“ folgte für sehr viele Menschen der Absturz in eine bisher nicht gekannte soziale Unsicherheit. Unter oft schwierigen Umständen erbrachte Lebensleistungen wurden urplötzlich zur Makulatur erklärt. Inzwischen geht es wirtschaftlich zwar vielerorts besser, aber die Furcht vor einem Rückfall sitzt tief. Fremde werden deshalb zuerst einmal als Konkurrenz empfunden.
Ein Lernprozess im Westen
Eine weitere mögliche Ursache allerdings wurde bisher kaum beachtet: Die Menschen in Ostdeutschland haben den Umgang mit Fremden nicht gelernt, sie brauchten es auch nie zu lernen.
Nach dem 2. Weltkrieg mussten wegen der neuen Grenzen zwischen der Sowjetunion, Polen und Deutschland Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Die Deutschen, die in die damaligen „Westzonen“ kamen, waren nirgends willkommen. Weder in Bayern noch in Niedersachsen. Wie das damals schon ältere schlesische Ehepaar aus gut situierten Verhältnissen, das in einem katholischen Wallfahrtsort in Westfalen landete: Sie wurden als Knecht und Magd einem Bauernhof zugewiesen. Immerhin, diejenigen, die aus Ostpreussen oder Schlesien in die „Westzonen“ kamen, wurden später materiell entschädigt. „Lastenausgleich“ hiess das. Zwar war das nur wenig, „lasst den Ausgleich“ nannten es die Betroffenen sarkastisch, aber er gab ihnen die Chance zum Aufbau einer neuen Existenz, der Voraussetzung von Integration. Ob sie es damals wollten oder nicht: „Einheimische“ und „Fremde“ machten ihre Erfahrungen miteinander. Zwangsweise. Beileibe nicht immer positive. Ein Lernprozess. Für beide Seiten.
„Parallelgesellschaften“
Dann kamen die Gastarbeiter. Zuerst die aus Palermo oder Brindisi. Freundlich aufgenommen wurden sie nirgends. Immerhin: Sie brachten einige allgemein als Bereicherung empfundene Innovationen in die bis dahin primär nahrhafte „gut bürgerliche“ deutsche Küche … Die aus Novi Sad oder Zagreb hatten es schwerer. Schon ihre Namen liessen sich so schlecht aussprechen. Komplizierter wurde es dann bei den Menschen, die später aus der Türkei nach Deutschland kamen. Die einen lernten die Sprache, setzten auf Bildung und legten beeindruckende Karrieren in der Politik, der Kunst, in Wirtschaft oder im Sport hin. Andere wollten oder konnten sich nicht integrieren. Die „Parallelgesellschaften“ in deutschen Grossstädten mit all ihren Konflikten waren die Folge. Aber auch damit zu leben, selbst im Negativen, musste erlernt werden.
In den späten 80er Jahren schliesslich kamen einige Hunderttausend „Wolgadeutsche“ oder die aus Rumänien freigekauften Siebenbürger Sachsen in die Bundesrepublik. Zwar war die Kriminalitätsrate unter den jungen „Wolgadeutschen“ aus Sibirien oder Kasachstan zeitweise sehr hoch, aber die Integration dieser Menschen gelang letztlich relativ reibungslos.
Tabuisierte Herkunft
In der „alten“ Bundesrepublik fand also ein über Jahrzehnte andauernder, oft an Konflikten reicher Prozess statt, mit dem sich die Menschen permanent auseinandersetzen mussten. „Einheimische“ und „Fremde“ machten ihre Erfahrungen miteinander. Beileibe nicht immer positive.
Nichts davon in der „Ostzone“ und dann in der späteren DDR. Zwar landeten auch hier nach dem 2. Weltkrieg hunderttausende Menschen aus Königsberg, Breslau oder Eger. Unwillkommen wie in den „Westzonen“. Das harte schlesische „r“ und das weiche sächsische „p“ waren nun einmal nicht kompatibel. Aber sie als „Flüchtlinge“ oder „Vertriebene“ zu bezeichnen und ihnen einen Sonderstatus zuzubilligen, war schlicht verboten. Ihre Herkunft wurde tabuisiert. „Umsiedler“ durften sie bestenfalls genannt werden. Sie hatten sich stillschweigend einzufügen und das Ihre beim Aufbau des Sozialismus zu leisten.
Keine Fremden, nur Freunde und Genossen
Als in den 80er Jahren der Arbeitskräftemangel in der DDR-Wirtschaft immer drückender wurde, holte man Menschen aus Vietnam ins Land. Die „Vertragsarbeiter“, so ihre offizielle Bezeichnung, wurden abgeschirmt, in Wohnheimen kaserniert, untergebracht. Kontakte zur Bevölkerung waren unerwünscht.
Es gab in diesem Staat keine Fremden. Nur Freunde und Genossen. Und selbst die Kontakte zu den „Freunden“, den in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten, unterlagen einer strikten Kontrolle. Wenn sie stattfanden, dann als stark reglementierte „Freundschaftstreffen“ mit den sowjetischen Genossen.
Die DDR war eben zeit ihrer Existenz kein Staat, in dem Menschen Erfahrungen mit Fremden sammeln konnten. Sie war einer, aus dem viele hinaus, aber keiner hinein wollte.
Gut bewirtschaftete Furch vor dem Fremden
Nach der Wende 1989 wurde ganz plötzlich alles anders: Viele strömten hinaus und einige kamen hinein. Ausser den aufgezwungenen Westlern in den Führungspositionen von Wirtschaft und Verwaltung kamen auch solche aus fremden Ländern und anderen Kulturen. Mit denen aber hatten die Ostdeutschen, im Unterschied zu den Westdeutschen, eben keine Erfahrungen, weder gute noch schlechte, sammeln können. Entsprechend virulent ist heute hier bei vielen eine Mischung aus Unkenntnis und Furcht vor dem Fremden. Mit den entsprechenden Reaktionen.
Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich in absehbarer Zeit „Parallelgesellschaften“ gerade in sächsischen Kleinstädten etablieren werden, doch relativ gering ist, die Furcht davor ist real. Und sie lässt sich gut bewirtschaften.