Die Sammlung von 3’000 Fotos des Galeristenehepaares Annette und Rudolf Kicken, die der Kunstpalast Düsseldorf unter der Leitung von Felix Krämer für 8 Millionen Euro erwerben konnte, wirft, wie andere vorzügliche Sammlungen auch, die Frage auf: Worin besteht das Geheimnis grosser Fotografie? Die Ausstellung gibt Antworten.
Der begleitende Band unter dem Titel „Sichweisen“ umfasst in Anlehnung an die jetzt laufende Ausstellung acht Themengebiete: Licht, Neugier, Mensch, Dinge, Ordnung, Alltag, Zeugnis, Raum. Unter dem Thema Neugier findet sich ein Foto von Helena Christensen, das Peter Lindbergh 1990 in Kalifornien aufgenommen hat. Unter anderem erschien es in der Italian Vogue.
Fragen und Rätsel
Man sollte dieses Foto von Peter Lindbergh eine Weile auf sich wirken lassen, vielleicht ein bisschen durch das Bild hindurchschauen. Dann stellt sich ein merkwürdiger Effekt ein. Die Frau und das Kind, die im ersten Augenblick nur verhuscht erscheinen, geraten zunehmend in Bewegung. Mit einem Mal ist man davon ganz gefangen.
Die schönen Beine und der makellose Körper, geradezu überbetont durch das Kleid, treten mehr und mehr hervor. Und da sind noch das Kind und das Auto mit der offenen Beifahrertür. Was bedeutet die offene Beifahrertür? Nachlässigkeit oder Absicht? Der Junge hat einen derartig bestimmten Schritt und dazu noch einen Gesichtsausdruck, als wisse er nur zu genau, wohin er geht. Und jetzt fällt auf, dass die Frau mit einem Ausdruck zu Boden schaut, als verfolge sie einen schon lange gefassten Plan. Aber worin besteht er? Beide wirken wie Komplizen in einem uns unbekannten Spiel.
In scheinbarer Beiläufigkeit hat Peter Lindbergh ein Foto geschaffen, das rätselhafte und unerzählte Geschichten enthält, die die Neugier wecken. Das ist ganz sicher eine besondere Qualität. Man findet sie auch bei anderen Fotos, die die Betrachter in ihren Bann ziehen, wenn vielleicht auch nicht so ausgeprägt wie bei diesem Bild von Lindbergh.
Manches andere aber erscheint dem Laien auf den ersten Blick wie ein Schnappschuss, der keine weitere Beachtung verdiente, oder hat man etwas übersehen? Bei anderen Bildern wiederum ist die Qualität evident. Das kann an der sofort ins Auge springenden formalen Stimmigkeit liegen, vielleicht an einer perfekten Inszenierung oder in der Meisterschaft, in der der „entscheidende Augenblick“ erfasst wurde.
Einige Bilder in diesem Band haben überwiegend historischen Wert. So gibt es ein Foto einer fliegenden Revolverkugel, das den Beginn der Hochfrequenzfotografie markiert. Andere Bilder zeigen historische Gebäude oder Wohnungseinrichtungen, und eine kleine Bildserie ist dem Zeppelin Hindenburg gewidmet. So sieht man das Interieur und kann kaum glauben, dass dazu zur musikalischen Unterhaltung auch ein Flügel gehörte. Das letzte Bild zeigt den Crash.
Zusammenstellungen
Besonders reizvoll ist die Zusammenstellung der Fotos. So sehen wir auf einer Doppelseite links ein Selbstporträt von Umbo, eigentlich Otto Maximilian Umbehr, der neben László Moholy-Nagy als der bedeutendste Fotograf des Bauhauses gilt. Auf der rechten Seite Alfred Hitchcock mit einer Weihnachtsgans. Was will Hitchcock den Betrachterinnen und Betrachtern mit seiner Geste sagen? Und Umbo hat eine fatale Ähnlichkeit mit Wladimir Putin
Eine andere Doppelseite enthält links zwei Bilder von 1935 mit gymnastischen Übungen von Schülerinnen. Der Einfluss der nationalsozialistischen „Kraft durch Freude“ ist unverkennbar. Diese Bilder sind faszinierend und schaurig zugleich. Und auf der rechten Seite sehen wir einen Jugendtanz in einem Kulturhaus der ehemaligen DDR. Fotografisch ist dieses Bild sehr reizvoll. Die Ästhetik zieht den Blick wieder und wieder in das Geschehen, und wie von selbst beginnen die Fragen nach dem Lebensgefühl der damaligen Jugend im Zeichen des Sozialismus. Die Doppelseiten vermitteln zwei Perspektiven auf totalitäre Regimes und enthalten auf ihre Weise Fragen an die Betrachter.
Der Band enthält eine Reihe von Texten verschiedener Autorinnen und Autoren. Zum Teil sind sie als Bildinterpretationen gedacht. Manche Ausführungen wirken sehr versponnen und geben mehr Rätsel auf als sie lösen.
Linda Conze / Museum Kunstpalast: Sichtweisen. Die neue Sammlung Fotografie, 192 Seiten, ca. 200 Abbildungen, Distanz Verlag 2020, ca. 36 Euro