Die sechs Kantaten, die Johann Sebastian Bach als Thomaskantor in zwei Leipziger Kirchen an den Weihnachts- und Neujahrstagen 1734/35 zur Aufführung brachte, sind unter der nachträglichen Bezeichnung „Weihnachtsoratorium“ zu einem der populärsten Werke der klassischen Musik geworden. Besteht da nicht die Gefahr der Routine und Abnützung?
Hans-Christoph Rademann, der im Konzertsaal des Luzerner KKL am Samstag die Kantaten I bis III und VI aufgeführt hat, winkt ab: „Wenn man einige Erfahrungen mit dem Weihnachtsoratorium gesammelt hat, fängt man erst an zu verstehen, worum es dabei geht.“ Der das sagt, ist einer der eminenten Bach-Spezialisten unserer Tage. Rademann, heute Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart, war von 2007 bis 2015 Chefdirigent des RIAS Kammerchors. Mit ihm und dem Freiburger Barockorchester – beides vielfach ausgezeichnete Spitzen-Ensembles – gastiert er nun auf einer Europatournee mit dem Weihnachtsoratorium.
Die Pastorale als Schlüssel zum Werk
Zu verstehen anfangen, worum es bei dieser Musik geht, das war denn auch die Einladung an die Zuhörenden. Am Eingang der zweiten Kantate steht ein als Sinfonia bezeichnetes Orchesterstück. Mit einem natürlich-lieblichen Ausdruck gibt sie sich zu erkennen als Hirtenmusik, wie sie als „Pastorale“ im barocken weihnächtlichen Musizieren heimisch war. Hier jedoch bleibt es nicht bei der Hirtenidylle. Albert Schweitzer, der Urwalddoktor, Theologe, Organist und Bachforscher, meinte zu diesem Stück: „Auch bei der zartesten Ausführung behält es etwas Unruhiges; es erweckt nicht den weihevollen Eindruck des sternbesäten Himmels, wie man es von dem Präludium zu der Erzählung von den Hirten zu Bethlehem, die des Nachts ihre Herde hüteten, erwarten sollte.“
Hans-Christoph Rademann stellte die innere Spannung der Sinfonia deutlich heraus, indem er sie eben nicht als liebliche Eingangsnummer zur zweiten Kantate gab, sondern als kühne Komposition vom Rang eines überragenden Orchesterwerks. Mit dieser Sinfonia hat Bach das Genre der Pastorale seines herkömmlich naiven Charakters entkleidet und völlig neu definiert. Der komplexe Bau des Stücks beruht auf einem unabhängigen Gegenüber der „irdischen“ Oboen und der „himmlischen“ Streicher. Albert Schweitzer dazu: „Es stellt ein gemeinsames Musizieren der Hirten und Engel dar.“
Bei aller hinreissenden Schönheit behält diese irdisch-himmlische Konstellation etwas Sperriges. Für Weihnachtskitsch mit Engelchen und Hirtenfigürchen ist da kein Platz. Bach lässt mit den komplexen motivischen und harmonischen Entwicklungen der Sinfonia keinen Zweifel daran, dass es um das grosse Drama der Heilsgeschichte geht. Das Weihnachtsoratorium ist vertikal strukturiert. Durch die Menschwerdung Gottes in dem kleinen schutzlosen Kind öffnet sich der Himmel zur irdischen Menschenwelt hin.
Dynamisierte Vertikale
Dass Gott mit seinen himmlischen Heerscharen „oben“ und die Menschenwelt „unten“ sei, hat sich als populäre Mythologie etabliert. Doch hier stehen das Oben und Unten nicht in festem hierarchischem Bezug zueinander. Denn in der Weihnachtserzählung ist der Herr des Himmels und der Erde identisch mit dem Neugeborenen in der Krippe. Diese Identifikation oder Inkarnation, wie es in der christlichen Theologie dann später heisst, dynamisiert die vertikale Struktur.
Im Vorgespräch machte Hans-Christoph Rademann auf eine musikalische Besonderheit aufmerksam. Sie bringt das Verrückte der Idee zum Ausdruck, das wehrlos in die Welt geschickte Wesen sei der Herrscher der Welt. Da gibt es in der ersten Kantate nach oben und nach unten strebende Motive, die in ihren Zusammenhängen paradox sind. Rademann dazu: „Am Anfang der Nr. 7 ‚Er ist auf Erden kommen arm’ stehen Aufwärts-Dreiklänge der Oboen, während in der Arie Nr. 8 ‚Grosser König’ die Dreiklänge der Trompeten nach unten führen. Das drückt aus, dass das Niedrige sich erhöht und das Grosse sich nach unten bewegt. Die normale Ordnung der Welt wird umgedreht.“
Die Aufführung im KKL arbeitete die komplexe Vertikalstruktur des Weihnachtsoratoriums heraus, doch nicht als Lehrstück, sondern als untergründige Dramatik des Stoffs. So stand dem festlichen Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“ am Ende der grosse Schlusschoral gegenüber, der den strahlenden Beginn an Pracht und Erlebnistiefe bei weitem überbietet – aber ja eigentlich ein Passionslied ist. Dieses „O Haupt voll Blut und Wunden“ erscheint als Chormelodie in den sechs Kantaten gleich mehrfach. Bach insistiert darauf, dass dieses In-die-Welt-Kommen Gottes auf die Kreuzigung des Gottessohnes hin führt.
Prozess der Verinnerlichung
Zwischen diesen Eckpunkten – der einen König ankündigenden Eröffnung und dem triumphalen, aber durch das Paradox der kommenden Passion spannungsvollen Schluss – entfaltet Bach die Geschichte, die von der Ankunft des Göttlichen, dem Erschrecken der Menschen, der Friedensbotschaft und schliesslich dem gläubigen Bemühen um einen adäquaten Empfang dieses sich selbst hingebenden Gottes erzählt. In der sechsten Kantate im Choral Nr. 59 „Ich steh’ an deiner Krippen hier“, vom RIAS Kammerchor ganz langsam und innig gesungen, kommt dieses Antwortgeben ergreifend zum Ausdruck. Das Weihnachtsoratorium spiegelt nicht nur die biblischen Legenden und theologischen Spekulationen um die Geburt des Jesus von Nazareth, sondern auch einen Prozess der Verinnerlichung dieser Botschaft als Haltung der gläubigen Gemeinde.
Die Aufführung im KKL hat den Gehalt des populären Werks in einer Weise verdeutlicht, dass man es wie zum ersten Mal hören konnte. Die Frische und Präsenz der Musik lebte von einem starken, makellosen Chor und einem Orchester, das die überragende Qualität des Instrumentalparts dieses Werks in einer so noch kaum gehörten Art demonstrierte. Als Solisten zeichneten sich besonders Anna Lucia Richter (Sopran), Stefanie Irányi (Alt) und Roderick Williams (Bass) aus. Maximilian Schmitt (Tenor) sang die in diesem Kantatenwerk wichtigen Rezitative ausdrucksvoll und souverän, kam aber bei extrem schwierigen Koloraturen seiner Arien an Grenzen. Das waren kleine Schwächen, die dem grandiosen Eindruck des Konzerts keinen Abbruch taten.
Nach Auftritten im Concertgebouw Amsterdam, Kursaal Wiesbaden und Festspielhaus Baden-Baden sind die weiteren Stationen der Tournee Hans-Christoph Rademanns mit dem Weihnachtsoratorium: 19. Dezember Dijon (Auditorium de Dijon), 20. Dezember Lyon (Auditorium Orchestre National de Lyon), 22. Dezember Wien (Konzerthaus).