Die Situation ist grotesk, fast schon verrückt: Plötzlich gelten die Taliban als das geringere Übel. Seit ihrer Gründung 1994 wird die radikalislamistische Terrortruppe vom Westen bekämpft. Hunderte Milliarden Dollar haben die USA aufgewendet. Und jetzt?
Jetzt stellt sich plötzlich die Frage, ob man die Taliban im Kampf gegen einen noch radikaleren Gegner unterstützen soll.
Ihr schneller Sieg hat die Taliban in die Defensive gedrängt. Sie sind überfordert. Sie haben nicht genug Kämpfer, um die Sicherheit im Land aufrecht zu erhalten. Und sie haben nicht genug Personal, um den Staat zum Funktionieren zu bringen. Die Geldströme aus dem Ausland sind gekappt, die Staatskasse ist leer. Soldaten, Polizisten und Beamte können nicht bezahlt werden. Im Land herrscht Dürre; eine Hungersnot droht. Im Pandschirtal, und nicht nur dort, formiert sich Widerstand.
Nicht genug: Plötzlich haben die radikalen Taliban einen noch radikaleren Gegner: den «Islamischen Staat» (IS) und al-Qaida. Diese Super-Terroristen haben sich überraschend schnell wieder breitgemacht. Schon seit längerer Zeit ist es der IS, der in Kabul und anderswo Anschläge verübt, zum Beispiel auf eine Mädchenschule. Das Attentat am Flughafen am vergangenen Donnerstag mit seinen rund 180 Toten war der bisher blutigste Anschlag.
Die Taliban und der IS sind seit langem verfeindet. Schon bezeichnet der «Islamische Staat» die Taliban-Kämpfer als «gottlos», als nicht «wahre Muslime», die mit den Amerikanern einen Deal getroffen hätten.
Wer ist schlimmer, die Taliban oder der IS oder al-Qaida?
Es gibt einen grossen Unterschied: Die Taliban beschränken sich (zumindest bis anhin) auf Afghanistan (und die pakistanische Grenzregion). Sie wollen den Terror nicht ins Ausland exportieren. Im Gegensatz zum «Islamischen Staat» und al-Qaida, die für eine Art islamistische Weltrevolution kämpfen. Al-Qaida war für 9/11 und andere Anschläge im Ausland verantwortlich. Die Taliban haben nie im Ausland gemordet.
Also: Sollte man nun plötzlich den Taliban helfen, das noch grössere Übel zu bekämpfen: den «Islamischen Staat» und al-Qaida?
Die Taliban-Führung, die sich plötzlich in Bedrängnis befindet, ist nicht dumm. Sie weiss um die Probleme. Die «neuen Taliban» versuchen jetzt, den Westen zu ködern. Sie geben sich so lammfromm, dass es fast schon weh tut. Frauen würden geachtet, die Menschenrechte ebenso. Die Scharia, kein Problem, das sei eine ganzheitliche positive Lebensphilosophie. Todesstrafe? Die gebe es in den USA auch. Natürlich sei die Pressefreiheit garantiert. Man strebe solide, freundschaftliche internationale Beziehungen an, Hilfswerke seien willkommen.
Wenn sie in der Defensive sind, treten die Taliban sogar – zumindest dem Westen gegenüber – auch als Frauenförderer auf. Kaum jemand traut diesen süssen Schalmaien.
Doch es gibt nicht DIE Taliban. Es gibt Dutzende, vielleicht Hunderte Taliban: verschiedenste Gruppen mit eigenen Kommandanten und eigenen Interessen. Allein in Kabul sollen jetzt über 20 verschiedene Kriegsherren regieren. Es gibt die verbissenen Gotteskrieger, aber auch pure Verbrecher, Vergewaltiger, ehemalige Mörder und Folterer, die ihre eigene Suppe kochen. Einige agieren unter dem Label «Taliban» und als Plünderer. Andere machen Hatz auf Frauen, enthaupten Afghanen, die mit Ausländern zusammengearbeitet haben. Eine starke, berüchtigte, mordende Gruppe, die Haqqani-Fraktion, ist eng mit den Taliban verbunden. Und Pakistan spielt wieder ein Doppelspiel.
Sicher ist, dass die Taliban-Führung diese verschiedenen Strömungen und Gruppen nicht (oder vielleicht: noch nicht) unter Kontrolle hat.
Werden die Rechte der Frauen wirklich geachtet? Dürfen Mädchen zur Schule gehen? Stellt man die Verfolgung der Hazara und anderer Schiiten ein? Werden weiterhin Hände und Köpfe abgeschlagen?
Noch ist unklar, wer dann schliesslich das Sagen hat: die Moderaten? Die Radikalen? Die Fanatiker? Die Verrückten? Es wird wahrscheinlich viele Monate dauern, bis das klar wird.
Soll der Westen nun Beziehungen zur moderaten Taliban-Führung aufnehmen, um diese zu stärken? 25 Jahre lang kämpften die USA und andere westliche Staaten gegen die mordenden Taliban mit ihrem Steinzeit-Islamismus. Sie, die Tausende abgeschlachtet, teils geköpft haben. Sie, die Frauen ohne Schleier mit Säure begossen haben.
Und jetzt sollen diese Taliban Verbündete des Westens werden? Sollen die Amerikaner, um ihnen zu helfen, weiterhin mit Drohnen gegen IS-Kämpfer vorgehen (wie an diesem Sonntag)? Oder: Soll der Westen den moderaten Taliban gar Waffen liefern, um den «Islamischen Staat» zu bekämpfen? Das wäre wohl die Krone der Absurdität. Man würde das dann Realpolitik nennen.