Gysling war in zwei zeitlich verschiedenen Phasen als Radio-Korrespondent in Moskau tätig – und in beiden Etappen erlebte er sozusagen an der Front hochdramatische Umbrüche, die mindestens zeitweise die Welt in Atem hielten. Im ersten Abschnitt von 1990 bis 1994 wurde er Zeuge des versuchten Putsches kommunistischer Reaktionäre gegen Michail Gorbatschow (1991), dann der offiziellen Auflösung der Sowjetunion sowie der „wilden Jahre“ unter Boris Jelzin.
An der Front und im Hinterland
Während seines zweiten Moskauer Einsatzes von 2008 bis Ende 2015 berichtete er im Winter 2013/14 aus Kiew für Radio und Fernsehen über die wochenlangen Demonstrationen auf dem zentralen Maidan-Platz gegen das korrupte Janukowitsch-Regime und die Flucht des Präsidenten nach Russland. Auch die kurz darauf erfolgte Annexion der Halbinsel Krim im Frühjahr 2014 durch das Putin-Regime sowie das damit verknüpfte Mitmischen russischer Militärkräfte bei den Abspaltungsbewegungen in der Ostukraine hat Gysling aus der Nähe beobachtet.
Das gilt ebenso für seine Berichte über den kurzen Kaukasus-Krieg von 2008 zwischen Georgien und Russland um die nominell zu Georgien gehörende Provinz Südossetien. Diesen Waffengang hatte der hitzköpfige damalige Präsident Saakaschwili kurzsichtig provoziert und innerhalb weniger Tage verloren.
Ferne Völker, halb vergessene Kriege
Gysling fasst in seinem Buch „Andere Welten“ seine Erlebnisse und Einsichten über diese politischen Brennpunkte in konzentrierten Texten zusammen, ergänzt durch stichwortartige Einschübe, etwa mit Hinweisen auf den zeitlichen Ablauf bestimmter Ereignisse oder auf statistische Daten. Der Autor berichtet auch über Themen, Stimmungsbilder und Hintergründe aus verschiedenen Regionen Russlands – wie Tatarstan an der Wolga, Dagestan im Nordkaukasus, Archangelsk und Murmansk im Norden, Jakutien in Ostsibirien, Sotschi und die teure Winterolympiade 2014 am Schwarzen Meer.
Weitere Kapitel schildern die Situation oder bestimmte Entwicklungen in mehreren Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion (Georgien, Kirgistan, Armenien und der nach wie vor völlig ungelöste, aber weitherum fast vergessene Konflikt mit Aserbeidschan um die Enklave Nagorni Karabach oder die Region um den vom Austrocknen bedrohten Aralsee in Zentralasien). Ergänzt wird der informative Band, der ein vielschichtiges Panorama der postsowjetischen Realitäten entwirft, ohne aber den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, durch illustrative, meist ganzseitige Farbfotos, die Gysling auf seinen Reportagereisen aufgenommen hat.
Augenzeuge am Kiewer Maidan und auf der Krim
Für den politisch interessierten Leser zählen die Abschnitte über Gyslings Erfahrungen und Informationen aus erster Hand auf dem Höhepunkt der ukrainischen Maidan-Revolte, den anschliessenden Konflikt um die russische Krim-Annexion und den weiterhin schwelenden Krieg in der Ostukraine zu den spannendsten Teilen seines Buches. Seine Schilderungen über die Stimmungen, Motive und teilweisen Widersprüche der Euromaidan-Bewegung, die in Kiew im Spätherbst 2013 begann, überzeugen schon deshalb durch hohe Glaubwürdigkeit, weil der Autor diese Ereignisse und ihre Folgen als Reporter während längerer Zeit unmittelbar am Ort beobachtet und analysiert hat.
So hält er fest, dass das ukrainische Parlament, das am 23. Februar den nach Russland geflüchteten Präsidenten Janukowitsch absetzte und gleichzeitig einen Übergangspräsidenten wählte, mehrheitlich aus Abgeordneten von Janukowitschs eigener „Partei der Regionen“ sowie der (tendenziell Moskau-freundlichen) KP bestand. Schon dieses Faktum spricht kaum für einen angeblich von westlichen Drahtziehern orchestrierten Putsch, wie das manche Verschwörungstheoretiker in West und Ost gerne behaupten.
Auch in den Tagen der Krim-Annexion war Gysling als Reporter unterwegs auf der zur Ukraine gehörenden Schwarzmeer-Halbinsel. Am 16. März 2014, als das von Moskau im Eiltempo organisierte Referendum über den sofortigen Anschluss der Krim an Russland stattfand, besuchte er in Sewastopol zahlreiche Stimmlokale und bekam dabei den Eindruck, dass nur wenige Einwohner an der Befragung teilnahmen. Selbst der Putin unterstellte Menschenrechtsrat sprach später von einer Stimmbeteiligung von 30 bis 50 Prozent. In den offiziellen Verlautbarungen der Regierung hiess es aber in krassem Gegensatz dazu, es hätten sich 83.1 Prozent aller Stimmberechtigten an dem Referendum beteiligt und 96.77 Prozent der Stimmen seien für den Anschluss abgegeben worden.
Der Schlüssel zum Frieden in der Ostukraine
Erinnert wird im Zusammenhang mit dem Krim-Konflikt auch daran, dass die russische Regierung 1994 im Budapester Memorandum ohne Einschränkung garantiert hatte, die damals bestehende territoriale Einheit der Ukraine zu respektieren.
Zum anhaltenden Krieg in der Ostukraine, der seit dem Ausbruch im Frühjahr 2014 rund 10‘000 Todesopfer gekostet und etwa zwei Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat, meint Gysling im „Versuch einer persönlichen Zwischenbilanz“, dass „der Schlüssel zu einer Friedenslösung bei einer Person“ liege: beim russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieser habe auch „die zuweilen chaotisch agierende Separatistenführung unter seiner Kontrolle“.
Putins Ziel: Make Russia great again!
Mit der Person Putins setzt sich der Autor denn auch in einem eigenen Kapitel mit dem leicht ironisch klingenden Titel „Putin forever“. Er betont aufgrund seiner langjährigen persönlichen Erfahrungen in diesem Land, dass tatsächlich viele Einwohner der Meinung sind, Putin sei wohl der Einzige, der das multinationale Riesenland zusammenhalten und einigermassen Stabilität und Sicherheit gewährleisten könne. Die anhaltende breite Zustimmung in der Bevölkerung hat nach Meinung des Autors viel mit der vor allem seit 2012 rasant intensivierten Propaganda im russischen Staatsfernsehen und der gleichzeitig verschärften Repression gegen oppositionelle Organisationen und Medien zu tun.
Auch Gysling hält es für wahrscheinlich, dass der jetzige Kremlchef 2018 ein viertes Mal zum Präsidenten gewählt und somit die russische Politik bis 2024 bestimmen wird. Er hält Putin allerdings mehr für einen geschickten Taktiker als für einen weitblickenden Strategen. Mit seinen häufig schnellen und überraschenden Entscheidungen sei er seinen Gegnern im politischen Schachspiel öfters „um zwei Züge voraus“.
Putins eigentliches Ziel sei die „Renaissance des grossen russischen Imperiums“, meint Gysling. Das hört sich ähnlich ominös an wie Trumps „Make America great again“. Was während Putins Regime aber unter die Räder kam, sind die erhoffte und anfänglich wohl auch von ihm angestrebte wirtschaftliche Modernisierung und demokratische Vertiefung des Landes. Dies sei auch der Grund, weshalb immer noch so viele junge, gut ausgebildete Russinnen und Russen danach strebten, im Ausland eine bessere Zukunftsperspektive zu finden.
Ans Herz gewachsen
Gysling lässt aber trotz seiner im Klartext formulierten Kritik über manche Entwicklungen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion keine Zweifel daran, wie sehr ihm dieses Land und einige andere postsowjetische Nachfolgerepubliken während seiner 13-jährigen Korrespondententätigkeit ans Herz gewachsen sind. Im Kapitel „Mein Moskau“ schildert er mit spürbarer Zuneigung die ausladenden und grossherzigen Gepflogenheiten der russischen Gastfreundschaft oder das riesige, unübersichtliche und ihm dennoch vertraut gewordene Labyrinth der russischen Hauptstadt.
Der Autor hat bei aller Kritik an den reaktionär-diktatorischen Tendenzen in Putins Russland und in andern Ex-Sowjetrepubliken die Hoffnung keineswegs begraben, dass der ins Stocken geratene Wandel zu mehr Demokratie, innerem Frieden und gerechterer Wohlstandsverteilung in der (zeitlich allerdings schwer zu bestimmenden) Zukunft wieder vorangetrieben werden wird. Doch dieser Wandel benötige offensichtlich „mehr Zeit, als viele Beobachter einst prognostiziert hatten“. Wer sich in Gyslings Buch vertieft, wird sich hüten, sich über die darin geschilderten „anderen Welten“ zu apodiktischen Schwarz-Weiss-Urteilen verleiten zu lassen.
Peter Gysling: Andere Welten. Begegnungen mit Russland. der Ukraine, dem Kaukasus und Zentralasien. Mit einem Vorwort von Heidi Tagliavini. Werd & Weber Verlag, Thun/Gwatt 2017.