Vor dreissig Jahren, am 14. August 1994, starb Elias Canetti in Zürich. Dieses Datum ist für Canetti-Experten von grosser Bedeutung. Denn bislang war nur ein Teil seines Nachlasses, der sich insgesamt in der Zentralbibliothek Zürich befindet, zugänglich. Nun aber können auch sein Tagebuch und grosse Teile seiner Korrespondenz eingesehen werden.
Mancher Experte wird mit grosser Spannung an diese Dokumente gehen. Denn Elias Canetti war nicht nur ein herausragender Denker, Autor und streitbarer Geist, sondern er führte auch ein bewegtes Privatleben. In den Berichten einiger seiner Besucher wird er als «schwieriger, eitler und jähzorniger Mann, gleichzeitig als egoistischer Frauenschwarm, der nicht mit Geld umgehen konnte» beschrieben. Hilde Spiel nannte ihn eine «wirkliche Giftspritze».
Aber einige seiner Bücher sind nach wie vor lesenswert. So hat er sich wieder und wieder mit seiner Kindheit und Jugend auseinandergesetzt und darüber in «Die gerettete Zunge», «Die Fackel im Ohr» und «Das Augenspiel» berichtet. Er wurde am 25. Juli 1905 in Bulgarien geboren, und seine Lebensstationen waren Österreich, England und die Schweiz. Seine Mutter brachte ihm Deutsch bei, so dass er von 1917 bis 1921 das Realgymnasium Rämibühl in Zürich besuchen konnte. In seiner Schrift «Die Provinz des Menschen» bekannte Canetti: «Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf jede Weise verheerten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behüten. Auch ihr Schicksal ist meines.»
Bis heute ist sein Hauptwerk «Masse und Macht» (1960) zumindest dem Titel nach am bekanntesten. Dieses Thema beschäftigte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sozialwissenschaftler und Psychologen, zum Beispiel Gustave Le Bon, José Ortega y Gassett und Sigmund Freud. In immer neuen Anläufen versuchte Canetti eine eigene Deutung der Massenbewegungen.
Auch wenn die Situation Canettis materiell und privat über lange Jahre prekär war, wurde er in der damaligen internationalen Künstler- und Intellektuellenszene stark beachtet. So hatte er unter anderem Verbindungen zu Bertolt Brecht, John Heartfield, George Grosz, Fritz Wotruba, Robert Musil, Dylan Thomas, Bertrand Russell und Anna Mahler – eine seiner unglücklichen Liebschaften.
1981 erhielt Elias Cannetti den Nobelpreis für Literatur. Danach entschloss er sich, keine Interviews mehr zu geben und keine Lesungen mehr abzuhalten. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er wieder in Zürich, und sein Wunsch war, auf dem Friedhof Fluntern beigesetzt zu werden, in Nachbarschaft von James Joyce.
(Journal 21)