Vor 35 Jahren begannen am 4. September in Leipzig die Montagsdemonstrationen. Ihre Wirkung ist bekannt, aber ihre Deutung ist heute umstrittener denn je.
Die Wahlen in Sachsen und Thüringen haben einmal mehr dokumentiert, dass die Menschen in den sogenannten neuen Bundesländern anders optieren als die Westdeutschen. Die Erwartung, dass Ostdeutsche und Westdeutsche sehr rasch zueinander finden würden, wurde enttäuscht. Bis heute wird viel darüber geschrieben und gerätselt: Sind die Westdeutschen nach der «Wende» zu arrogant aufgetreten, waren die wirtschaftlichen Massnahmen der Treuhand zu brutal, oder haben sich die Westdeutschen bewusst oder unbewusst gegen eine Gleichstellung der Ostdeutschen gestemmt, so dass diese bis heute in höheren Positionen der Wirtschaft und Politik unterrepräsentiert sind?
Das Bündnis Sahra Wagenknecht und die AfD versuchen gleichermassen, aus der Unzufriedenheit der Ostdeutschen Honig zu saugen. Sahra Wagenknecht wendet die damalige Parole, «Frieden schaffen ohne Waffen», gegen die jetzige Ukraine-Politik der deutschen Bundesregierung. Die damaligen Parolen, zu denen auch «Schwerter zu Pflugscharen» gehörte, richteten sich auf Diplomatie und Abrüstung, um die Konfrontation der östlichen und westlichen Machtblöcke zu überwinden, bevor diese eskaliert. Bei Wagenknecht dient die Forderung nach Frieden und Diplomatie als Deckmantel, um die Hilfeleistung an die Ukraine einzustellen und dem Aggressor Russland das Feld zu überlassen.
Und die AfD hat den Slogan «Wir sind das Volk» gekapert. 1989 hatte diese Parole einen eindeutig politischen Sinn: Das «Volk» wurde als eine politische Einheit verstanden, die sich gegen das DDR-Regime richtete. Die AfD versteht unter «Volk» aber eine ethnische Einheit, die sich gegen aussen abgrenzt. Dass sich beides nicht miteinander vereinbaren lässt, stört die AfD ebenso wenig wie ihre zahlreichen Wähler aus dem Osten.
35 Jahre – im Rückblick muss man konstatieren, dass auch die Westdeutschen die damalige Protestbewegung grandios missverstanden haben. Sie meinten ganz selbstverständlich, dass es nichts Idealeres als ihre Gesellschaft gibt und die ostdeutschen Brüder und Schwestern nichts sehnlicher wünschen, als ein Teil davon zu werden. Weit gefehlt.
Das Foto entstand am 13. November 1989 auf dem Karl Marx-Platz in Leipzig.
(Journal 21)