Einen Tag nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbour hielt US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Kongress eine siebenminütige Rede, in welcher er den 7. Dezember 1941 als Datum bezeichnete, das «für immer als infam» in Erinnerung bleiben wird. Ähnliches ist einer über den 4. November 2020 versucht zu sagen. Frühmorgens trat Präsident Donald Trump im Weissen Haus vor die Mikrofone und verkündete unter Jubel, er habe gewonnen und werde den Supreme Court anrufen, um die Auszählung der Stimmen zu stoppen – zumindest in jenen Staaten, in denen er führte, wo aber noch Millionen von Stimmen auszuzählen waren. Bereits zuvor hatte Trump über Twitter ohne jegliche Begründung verbreitet, die Demokraten würden versuchen, die Wahl zu stehlen, was er nie zulassen werde – eine Erklärung, welche die sozialen Medien prompt mit Warnhinweisen versahen.
Es dürfte noch einige Zeit, unter Umständen noch Tage dauern, bis das definitive Ergebnis der Präsidentenwahl in den USA feststeht. Auch ist nicht auszuschliessen, dass der Ausgang des Urnengangs in einzelnen Staaten noch vor Gericht angefochten werden wird. Doch fest steht, dass die «blaue Welle», ein Erdrutschsieg der Demokraten inklusive das Erlangen der Mehrheit im Senat, wie sich das aufgrund von Umfrageergebnissen viele erhofft oder erträumt hatten, am Trumpschen Felsen zerschellt ist, obwohl ein Sieg Joe Bidens nach wie vor im Bereich des Möglichen liegt.
Zu gross für eine «Blue Wave» war wohl der Anteil der «silent vote», d.h. die Zahl jener Wählerinnen und Wähler, die sich bei Befragungen am Telefon nicht für Donald Trump auszusprechen wagten. Zu optimistisch auch die Einschätzung demokratischer Wahlstrategen, grosse Staaten wie Florida oder Texas mit ihren vielen Wahlmännerstimmen umdrehen zu können. Und nicht zu reden von der «Blue Wall», den «swing states» Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, die Hillary Clinton 2016 fahrlässig vernachlässigt hatte und wo die Auszählung der Stimmen andauert. In Arizona allerdings scheint es Joe Bidens Partei gelungen zu sein, einen Staat, der früher republikanisch wählte, zu drehen – nicht zuletzt dank Stimmen von Latinos.
Auch die Rückgewinnung der Senatsmehrheit dürfte für die Demokraten eine Illusion bleiben. Auf jeden Fall wurden Trumps Hauptstützen im 100-köpfigen Gremium, Mitch McConnell in Kentucky und Lindsey Graham in South Carolina, wiedergewählt – trotz demokratischer Hoffnungen, sie ablösen zu können. Indes stand das Übergewicht der Demokraten im 435-köpfigen Abgeordnetenhaus nie in Frage, auch die Wiederwahl jener Progressiven nicht, die vor vier Jahren den Einzug in die grosse Kammer geschafft hatten und vor denen die Republikaner lautstark warnen, sie würden zusammen mit Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris den Zentristen Joe Biden, falls gewählt, ins linke, sozialistische Lager ziehen.
Analysen werden in nächster Zeit akribisch aufschlüsseln, wer wo wie und warum gewählt hat. Einzelne Schlüsse lassen sich aufgrund von Nachwahlbefragungen («exit polls») allerdings bereits ziehen. Joe Biden haben vor allem jüngere Amerikanerinnen und Amerikaner gewählt, Donald Trump dagegen in erster Linie ältere. Die Corona-Pandemie und der Rassismus haben besonders demokratische Wählerinnen und Wähler beschäftigt, während für Republikanerinnen und Republikaner die nationale Wirtschaft das wichtigste Thema war. Deren Lage befriedigt zwar derzeit nicht, hat aber vor Ausbruch der Pandemie noch gebrummt. Weniger sorgten sich Urnengänger um die innere Sicherheit, ein Thema, das Donald Trump nach Rassenprotesten in verschiedenen amerikanischen Grossstädten demagogisch gepusht hatte.
Wie 2016 werden die Demoskopen erneut über die Bücher gehen müssen, denn ihre Umfrageergebnisse, die Joe Biden teils deutlich in Führung zeigten, dürften etliche Leute in falscher Sicherheit gewiegt haben. Das gilt auch für jene Auguren, die dem demokratischen Kandidaten aufgrund ihrer analytischen Wahlmodelle einen deutlichen Sieg prophezeiten. Zu optimistisch berichteten zudem erneut etliche Medien, deren Kommentatoren sich teils mehr von persönlichen Vorlieben als von neutralen Analysen leiten liessen.
Und wenig bis gar nichts genützt hat offenbar der Umstand, dass die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Medien, vom Präsidenten als «Fake News» beschimpft, Joe Biden zur Wahl empfahlen. Ihnen ist es nur bedingt gelungen, der Fülle jener Lügen und Unwahrheiten zu kontern, die das Weisse Haus und ein dem Präsidenten sklavisch ergebener Propagandasender wie Fox News tagtäglich verbreiteten. Sollte Donald Trump gewinnen, bleibt für die Medien nur der schwache Trost, weiterhin vom «Trump Bump», dem spürbaren Ansteigen der Abonnenten-, Leser- und Zuschauerzahlen profitieren zu können. Gleichzeitig zirkulieren Meldungen, wonach einige Medienschaffende, die im Weissen Haus akkreditiert sind, akut von Burnout bedroht sind.
Aufflammen dürfte in nächster Zeit schliesslich die Diskussion, wie zeitgemäss das amerikanische Wahlsystem, das in der Verfassung verankert ist, noch sein kann. Ein System, das es einem Kandidaten erlaubt, dank des Electoral College die Wahl zu gewinnen, auch wenn er die Volksmehrheit verliert. Denkbar wäre zum Beispiel, die Elektorenstimmen in den einzelnen Staaten beiden Kandidaten künftig anteilsmässig zuzuteilen, wie das zwei Einzelstaaten bereits tun. Was auf jeden Fall ein repräsentativeres Abbild der Absichten der Wählerschaft ergäbe.
Wünschbar wäre auch, die Rolle zu überdenken, die das Geld im amerikanischen Wahlkampf zu spielen pflegt, obwohl dieses Mal nicht zuzutreffen scheint, dass jener Kandidat (Joe Biden) gewinnt, der mehr Mittel gesammelt hat. Ob ein Wahlkampf auf allen Ebenen allerdings an die 14 Milliarden Dollar kosten muss, darf aber mit Fug und Recht bezweifelt werden.
«Feel inspired, America», schreibt die «New York Times» in einem ersten Leitartikel nach der Präsidentenwahl vom 3. November: Sei inspiriert, Amerika. Zwar sei, so das Editorial Board, der Urnengang nervenaufreibend gewesen: «Wir leben in einem Land, in dem zu viele Amerikanerinnen und Amerikaner in unakzeptabel langen Warteschlangen anstehen müssen, bis sie wählen können, besonders wenn sie schwarz und arm sind.» Im selben Land aber gebe es völlig Fremde, die den Leuten Pizzas senden würden, um ihnen das Warten zu erleichtern.
«Ja, korrupte Politiker intrigieren, um Stimmen für ungültig zu erklären, von denen sie annehmen, dass die andere Seite sie abgegeben hat», heisst es in der Stellungnahme der «Times» weiter: «Aber Heerscharen durchschnittlicher Bürgerinnen und Bürger tun alles, um sicherzustellen, dass so viele Stimmen gezählt werden wie möglich.»
Diese Leute zeigten denselben Spirit, der seinerzeit Alexis de Tocqueville in den Vereinigen Staaten so beindruckt habe: «Der Bürgersinn in Sachen Freiwilligenarbeit seitens normaler Menschen verbindet und vereint uns. In einer Nation, die so gespalten ist wie unsere und die von Küste zu Küste vor grossen Herausforderungen steht, werden wir noch viel mehr davon brauchen.»