Totgesagte, weiss der ja häufig kluge Volksmund, leben länger. Auf diese Erkenntnis gestützt, könnten die Chef- und Sachverhandlungsführer von CDU, CSU und SPD ihr gegenwärtiges Ringen um eine tragfähige Plattform für ein neues gemeinsames Regierungsbündnis in Berlin eigentlich beruhigt führen. Denn, glaubt man dem aufgeregten Geraune im medialen deutschen Blätterwald, dann sollte einer Neuauflage der bisherigen schwarz-roten Koalition keine lange Dauer beschieden sein. Normalerweise sind solche pessimistischen Vorhersagen kein sonderlich gutes Omen für ohnehin schon genügend schwierige Vorhaben. Aber noch einmal: Totgesagte usw.
Drei Verlierer üben Muskelspiele
Dabei entbehrt das, was sich zurzeit an der Spree vollzieht, wirklich nicht einer gewissen Skurrilität. Da sitzen mit Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz ausgerechnet drei Wahlverlierer vereint im einstimmig postulierten Ziel, dem bundesdeutschen Staat und seinen Bürgern für die nächsten vier Jahre eine „stabile Regierung“ zu präsentieren. Bloss Wahlverlierer? Beileibe nicht. Bayerns Noch-Ministerpräsident Seehofer muss – gezwungen von seiner CSU – schon in wenigen Wochen dieses Amt aufgeben und wird dann (wie lange?) nur noch Parteichef sein. Der vor genau einem Jahr von den Genossen wie ein Heilsbringer hoch gejazzte und auf dem anschliessenden Parteitag mit 100 (!) Prozent zum SPD-Vorsitzenden erhobene Martin Schulz wird von den damaligen Jublern längst mehr als Belastung denn als politischer Heerführer empfunden. Und vom einstigen Glanz der Bundeskanzlerin und CDU-Oberin Angela Merkel ist ebenfalls nur noch wenig zu erkennen. Drei „Loser“ also, die sich in Muskelspielen üben.
Nun werden wahrscheinlich nur Tagträumer und politische Spielernaturen ernsthaft bestreiten, dass die Bundesrepublik eine starke (und das heisst: stabile) Regierung braucht. Deutschland in seiner geopolitischen und wirtschaftlichen Position ist eben nicht Belgien, dessen öffentliches Leben sogar ein Jahr lang ohne erkennbare Nachteile „kommissarisch“ in Gang gehalten werden konnte. Nach dem Scheitern des Versuchs, eine Koalition aus CDU/CSU, FPD und Grünen zu basteln, wächst bei den Bürgern zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz spürbar die Ungeduld, dass die im September Gewählten fast ein halbes Jahr danach endlich das Staatswohl über die Parteiinteressen stellen und ihren Lenkungsaufgaben nachkommen. Dies, freilich, ist leichter gefordert als umgesetzt. Denn die kommenden Zeiten verlangen weit mehr als nur die personelle Besetzung von Ministerien.
Eine gespaltene Nation
Gewiss nicht nur, aber auch Deutschland steht vor einer schwierigen, vielleicht sogar dramatischen Zeitenwende. Das gilt gleichermassen für die Politik als auch die so genannte Zivilgesellschaft. Hier wie dort tun sich Klüfte auf – Spaltungen zwischen Alt und Jung, Arm und Reich, gebildet und wissensmässig abgehängt, weltoffen-liberal-optimistisch und ängstlich-pessimistisch gegenüber neuen und daher vielfach unbekannten Herausforderungen. Wie tief dieser Riss bereits geht, war vor wenigen Tagen auf dem Bonner SPD-Sonderparteitag geradezu exemplarisch zu beobachten, bei dem der Parteispitze von den Delegierten mit denkbar knapper Mehrheit erlaubt wurde, in Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien einzutreten. Es war ein fast schon erbarmungswürdiges Bild, wie praktisch die gesamte Kaste der Obergenossen vor einem (ohne Zweifel sprachlich und argumentativ hoch begabten) Endzwanziger und dessen jugendlicher Gefolgschaft zitterte.
Dabei steht den Sozialdemokraten die eigentliche Nagelprobe sogar erst noch bevor. Nämlich dann, wenn die rund 450’000 Parteimitglieder über die etwaigen Ergebnisse der jetzt laufenden Koalitionsverhandlungen bindend abstimmen dürfen. Was sich hier in der SPD abspielt, vollzieht sich im Prinzip auch in den anderen Parteien – wenn auch nicht ganz so laut und heftig. Zumindest in den traditionellen. Überall bahnt sich ein umfassender Generationswechsel an. Personell ebenso wie inhaltlich. Das wird selbst die von Wahlerfolgen in der Vergangenheit verwöhnte bayerische CSU zu spüren bekommen; vermutlich schon bei den Landtagswahlen im kommenden Herbst. Die alten, treuen, noch eher ländlich-traditionell geprägten Wähler werden weniger, dafür drängen junge Jahrgänge mit anderem Bildungshintergrund und unterschiedlichen Lebensvorstellungen auch im weiss-blauen Alpenland nach vorn. Nicht anders stellt sich die Herausforderung auch für die CDU.
An der Zukunft vorbei?
Und die Reaktion darauf? Was gab es nach den Wahl-Klatschen im Herbst nicht für Schwüre. Nie mehr Grosse Koalition, hiess es trotzig bei den „Sozis“. „Wir haben verstanden“, trompeteten CDU und CSU, „deshalb auch kein ‚Weiter so‘". Und die Genossen ergänzten, die Oppositionszeit werde genutzt, um sich und die Partei „neu aufzustellen“. Mit anderen Worten: Von Grund auf erneuern. Und die Wähler? Sie vernahmen wohl die Botschaften. Allein, es fehlte ihnen von vornherein der Glaube. Wie könnte es denn auch anders sein? Will die Mehrheit denn überhaupt wirklich Veränderungen? Kaum hatte das Bundesfinanzministerium bekannt gegeben, dass aufgrund der anhaltend guten Wirtschaftslage rund 45 Milliarden Euro über Plan in der Kasse klimpern, geschah, was bei so etwas immer passiert – sofort meldeten sich vor allem die mächtigen Lobbygruppen von den Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften bis zu den diversen Wohlfahrts-Organisationen. Und weil alle von dem Finanzkuchen ein möglichst grosses Stück abkriegen möchten und natürlich auch ihre Interessenvertreter in den jeweiligen Parteien platziert sind, wird am Ende kaum etwas anderes herauskommen als eben genau ein „Weiter so“.
Man braucht sich ja nur die vor Beginn der Koalitionsverhandlungen lauthals postulierten Forderungen zu vergegenwärtigen, um schnell zu dem deprimierenden Schluss zu kommen: Mit Neuanfang und auf die Zukunft ausgerichteter Politik hat das wirklich kaum etwas zu tun. Die SPD strebt ganz offensichtlich Ergebnisse an, die der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow als TVöD karikiert – als „Tarifvertrag im öffentlichen Dienst“. Anders ausgedrückt, es geht in erster Linie um Verteilung, um soziale Wohltaten. Dabei hat die inzwischen auf 20 Prozent Wählerstimmen geschrumpfte, einstige stolze Volkspartei natürlich die Mehrheit der Gewerkschaften auf ihrer Seite, die freilich ebenfalls (sagen wir es wohlwollend) „traditionell“ weniger den Herausforderungen der Zukunft zugewandt sind. Das findet – logisch – Anklang bei den öffentlich Bediensteten und auch den Autobauern mit ihrer IG-Metall.
Bildung, Bildung, Bildung
Natürlich wird die Sozialpolitik immer eine zentrale Rolle spielen. Schon gar in einer alternden Gesellschaft, in der die Alterspyramide längst auf dem Kopf steht und sich damit die Fragen von Alters- und Gesundheitsversorgung zunehmend dramatisch stellen. Umso unverständlicher ist es, dass jenen Themen in den Koalitionspapieren so wenig Beachtung geschenkt wird, die mit Sicherheit unsere Zukunft bestimmen werden. Das heisst, ganz zuvorderst, Bildung, Bildung, Bildung. Man muss sich ja nicht von Horrorszenarien und -zahlen in Angst und Schrecken versetzen lassen – von apokalyptischen Bildern mit leer stehenden Fabriken und Arbeitslosenschlangen. Aber dass im Zuge der rasend voranschreitenden Digitalisierung viele klassische Arbeitsplätze wegfallen, weil zum Beispiel Autobusse oder Personen- wie Güterzüge ohne Fahrer unterwegs sein werden, ist kein Schreckensgespenst. Das ist unausweichlich. Und zwar schon in absehbarer Zeit.
Klar, es werden auch völlig neue Arbeitsplätze entstehen; man sieht das schliesslich heute schon. Aber ganz sicher keine riesigen Produktionsstätten mit zigtausenden von Beschäftigten, wie wir sie noch gewohnt sind. Das wird Gesellschaft wie Politik vor bislang ungekannte Probleme stellen – arbeitsmarktpolitisch, sozialpolitisch, gesundheitspolitisch, gesellschaftspolitisch. Der Politik (Bevölkerung eingeschlossen) wird kein „Weiter so“ gestattet sein. Wer das nicht erkennt, sollte sich nicht an der Weichenstellung beteiligen. Denn der setzt nicht auf Zukunft, sondern allein auf ein Durchwursteln, irgendwie. Dann wird in anderen Regionen der Erde die Musik spielen.
In wenigen Tagen wissen wir mehr.