Ende Mai 2013 meldeten türkische Medien, die Polizei habe im Süden der Türkei bei einer Razzia einen zwei Kilo schweren Zylinder sichergestellt, der das Nervengas Sarin enthielt. Gefunden wurde der Kampfstoff in Wohnungen, die von Mitgliedern der sogenannten Al-Nusra-Brigade benutzt wurden. Die türkische Regierung, die den Aufstand gegen Assad unterstützt, sah sich zu einem hastigen Dementi gezwungen. Der türkische Botschafter in Moskau versicherte den Medien, es habe sich nicht um Sarin, sondern um «Frostschutzmittel» gehandelt.
Wer besass Giftgas?
Ob die türkische Anti-Terror-Einheit, die die Operation führte, tatsächlich so inkompetent war, Sarin mit Frostschutzmittel zu verwechseln, sei dahingestellt. Es gab andere Hinweise darauf, dass verschiedene Gruppen radikaler Gotteskrieger im Besitz von chemischen Kampfstoffen waren, darunter glaubwürdige Berichte von Journalisten und Journalistinnen, die entsprechenden Hinweisen aus dem Umfeld der Aufständischen nachgegangen waren.
Fest steht in jedem Fall, dass westliche Medien von all dem kaum Notiz nahmen. Zu stark, so darf man vermuten, waren die Journalisten in den Redaktionen der westlichen Medien zu diesem Zeitpunkt immer noch auf das Schema fixiert, dass nur das Assad-Regime für Untaten in Frage komme. Ein holzschnittartiges Schema, das die westlichen «Freunde Syriens» – allen voran die USA, Grossbritanien und Frankreich – mit einer gewaltigen Propagandamaschinerie äusserst erfolgreich produziert hatten.
Seymour Hersh wollte es genauer wissen
Als die UNO-Inspektoren Mitte September ihren Bericht publizierten, in dem sie den Einsatz von Sarin bestätigten, erklärte Samantha Power, UNO-Botschafterin der USA, in einer Pressekonferenz: «It’s very important to note that only the (Assad) regime possesses Sarin, and we have no evidence that the opposition possesses it.»
Das war, wie jetzt ans Tageslicht kommt, eine falsche Information. Tatsächlich wussten die westlichen Geheimdienste seit langem, dass die Aufständischen sich chemische Kampfstoffe beschaffen konnten und dies auch taten.
Seymour Hersh ist der grosse alte Mann der amerikanischen Recherchierjournalisten. Er hat das Massaker von My Lai in Vietnam aufgedeckt und auch mitgeholfen, die Folter im irakischen Gefängnis Abu Ghraib publik zu machen. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit hat er nun in Geheimdienstkreisen recherchiert und kommt aufgrund von zahlreichen seriösen Quellen zu der Erkenntnis, dass die Regierung in Washington der Regierung Assad die Schuld für den Giftgasangriff in die Schuhe schob, ohne entsprechende Beweise zu haben. Hersh publiziert seine Erkenntnisse jetzt in einem langen Aufsatz in der «London Review of books».
Geheimdienstleute ärgern sich über die Regierung
Präsident Barack Obama wandte sich am 10. September in einer Fernsehansprache an die amerikanische Nation: «Assad’s government gassed to death over a thousand people. We know the Assad regime was responsible.» Obama behauptete, die Geheimdienste hätten in den Tagen vor dem 21. August beobachtet, dass Assads Truppen den Gasangriff vorbereiteten. Sie hätten ihren Leuten Gasmasken verteilt. Sie hätten die Komponenten des Giftgases gemischt. Aussenminister John Kerry war in seinen Ausführungen kurz darauf noch weit aggressiver. Er behauptete, man habe beobachtet, dass Assads Giftgas-Experten bereits am 18. August vor Ort gewesen seien, um den Angriff vorzubereiten. Dann hätten sie von syrischen Stellungen Raketen in elf Quartiere geschossen, aus denen sie die Aufständischen vertreiben wollten.
In Gesprächen mit Geheimdienstleuten und Militärs stiess Seymour Hersh auf Ärger und Entrüstung über diese Behauptungen. Die Obama-Regierung hatte in Wirklichkeit in den Tagen vor dem 21. August keinerlei Hinweise auf einen Gasangriff. In den allmorgendlichen Geheimdienstreports im Weissen Haus kommt in den Tagen vor dem Gasangriff das Thema Syrien überhaupt nicht vor. Obama warf mit Absicht jegliche Zeitabfolge über den Haufen. Er stellte Erkenntnisse, die nach dem 21. August rekonstruiert wurden, so dar, als seien es Geheimdienst-Informationen über eine laufende Aktion gewesen.
Der Schuss ging jedoch nach hinten los. In arabischen Medien fragen sich Journalisten entsetzt: Wie ist es möglich, dass die Regierung in Washington von einem grossen Gasangriff gewusst haben will und so viele Menschen töten liess, ohne die Bevölkerung in Damaskus zu warnen?
Kommunikationsflops
Aber selbst die Zahlen über Opfer entstanden offenbar nach dem Lotterie-Prinzip. Die Obama-Regierung sprach zunächst von 1’429 Toten, darunter mehr als 400 Kinder. Syrische Menschenrechtsgruppen zählten 502 Tote, Médecins sans Frontières 355. Und ein französischer Rapport kommt auf 281 Tote. Wie das Wall Street Journal aufdeckte, beruhten die Zahlen der Amerikaner nicht auf exakten Angaben, sondern auf einem Scanning-Verfahren, dass die CIA bei Youtube-Filmchen vornahm.
Angesichts solcher Kommunikationsflops ist es nicht erstaunlich, dass in Teilen der Geheimdienstbürokratie Frustration herrscht über den willkürlichen Umgang des Weissen Hauses mit den Erkenntnissen der Dienste. Zwar haben die Spitzen der Hierarchie von NSA, CIA etc. die offizielle Version von der Täterschaft Assads am Ende abgesegnet und gedeckt. Doch die Dienste sind und waren nie ein homogenes Gebilde. Einzelne unter den Zehntausenden von Mitarbeitern fühlen sich in ihrer Professionalität diskreditiert, wenn die Regierung allzu dick aufträgt bei der Falschinformation der Öffentlichkeit. Und genau solche frustrierten Mitarbeiter sind es offenbar, die einem Seymour Hersh ihren Ärger mitteilen.
Giftgaslager unter Satellitenkontrolle
Die Washington Post publizierte am 29. August Informationen, die offenbar teilweise auf Dokumenten des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden beruhen. Demnach war die NSA seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr in der Lage, direkte Telefon- und Mail-Kommunikation der Assad-Regierung oder der Militärspitze abzuhören, weil diese die Bespitzelung entdeckt und technisch unterbrochen hatten. Folglich war auch die Behauptung der Obama-Regierung, man habe eindeutige Gespräche abgefangen, in denen von dem Befehl zum Giftgasangriff die Rede wäre, eine Falschinformation.
Weiterhin brachte die «Washington Post» ans Licht, dass das National Reconnaissance Office, eine Agentur, die die Spionage-Satelliten unter Kontrolle hat, offenbar in der Lage ist, mit Hilfe eines flächendeckenden Sensoren-Systems, welches «on the ground» installiert ist, jede Verlagerung von Giftgas aus den syrischen Depots unmittelbar zu melden. Der israelische Geheimdienst ist ebenfalls an diesem Monitoring beteiligt. Das System zeigte in den Tagen vor dem 21. August keinerlei Alarm an. Also ein weiterer Hinweis darauf, dass die amerikanische Regierung nicht die Wahrheit gesagt hat.
Gezielt verbreitete Unwahrheiten
Seymour Hersh zählt zahlreiche weitere Ungereimtheiten in der Sarin-Story auf. Darunter die Feststellung, dass es sich bei der Giftgas-Rakete, die als corpus delicti kolportiert wird, um einen Raketentyp handelt, der seit langem nicht mehr in der syrischen Armee im Gebrauch ist. Russische Experten hatten bereits festgestellt, es handele sich um eine sowjetische Rakete aus den 50er Jahren, die amateurhaft präpariert wurde. Der amerikanische Raketenexperte Theodore Postol, MIT-Professor für Technologie und Sicherheitspolitik, kommt zu dem Schluss, die von den UNO-Inspektoren rekonstruierte Flugbahn der Rakete sei «purer Blödsinn».
Laut Seymour Hersh berichtet ein Senior Intelligence Consultant, die CIA habe die Regierung Obama schon im vergangenen Mai darüber unterrichtet, dass eine fundamentalistische sunnitische Kampfgruppe namens Al Kaida im Irak, die in Syrien operiere, in der Lage sei, Sarin herzustellen. Die CIA hatte besonders Ziyaad Tarik Achmed im Visier, einen ehemaligen Giftgasexperten der irakischen Armee, der in Srien im Einsatz sei. Der Mann stand im Dienst der Al-Nusra-Front.
Die Enthüllungen von Seymour Hersh fügen sich ein in ein Mosaik von zahlreichen Hinweisen, die den Verdacht verdichten, dass die Unwahrheit verbeitet wurde und dass die schnellen Medien sich einmal mehr zum Narren halten liessen.
Ungereimtes und Informationslücken
Ich selbst habe mir unmittelbar nach den Ereignissen des 21. August viele Fragen gestellt. Zum Beispiel diese: Woher kamen die Fotos von so vielen Kinderleichen unmittelbar nach dem Angriff, der ja zwischen drei und fünf Uhr morgens stattgefunden haben soll? Warum waren so viele Kinder an einem Ort in einem umkämpften Quartier? Wo waren die Eltern der Kinder, die Mütter? Warum haben die UNO-Inspektoren die Leichen dieser Kinder nicht untersucht? Warum keine DNA-Proben entnommen?
Ein arabischer Reporter berichtet, der Vater eines der Aufständischen habe ihm anvertraut, sein Sohn habe von Giftgaskomponenten geredet, die er in einem Lastwagen habe transportieren müssen. Man habe das «von den Saudis» bekommen. Dieser Sohn sei dann aber «bei einer Explosion in einem Tunnel» ums Leben gekommen.
Eines scheint mir sicher: Wer auch immer operativ am fraglichen Giftgasangriff beteiligt war, der wird als Zeuge nicht mehr aussagen können. Denn diejenigen, die hunderte von Unschuldigen mit Kampfgas töten, werden nicht zögern, jeden Augenzeugen zu beseitigen, der ihnen zur Belastung werden könnte.