An diesem Mittwoch Morgen wählte die Vereinigte Bundesversammlung nach einer beispiellosen Schlammschlacht anstelle der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner den Neuenburger Regierungs- und Nationalrat Francis Matthey in den Bundesrat. Die Empörung über die verletzende Behandlung von Christiane Brunner in Politik und Medien einerseits und über die erneute Nichtwahl einer Frau in den Bundesrat andrerseits war gross und strahlte weit über die SP hinaus. Anders als knapp zehn Jahre zuvor, als im Dezember 1983 die Bundesversammlung anstelle der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen Otto Stich in den Bundesrat wählte, signalisierte die SP-Leitung unmissverständlich, dass sie eine Frau in den Bundesrat delegieren wolle. Francis Matthey nahm schliesslich eine Woche später die Wahl nicht an, und die Vereinigte Bundesversammlung wählte unter grosser Anteilnahme von gut 10’000 Personen auf dem Bundesplatz die Gewerkschaftssekretärin Ruth Dreifuss zur Bundesrätin.
Nur wenige Frauen in den Achtzigerjahren
1983, als Lilian Uchtenhagen nicht in den Bundesrat gewählt worden war, sah es mit der Frauenvertretung in den politischen Institutionen durchwegs schlecht aus. Auch zwölf Jahre nach der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts gab es noch keine Frau im Bundesrat, eine einzige in den kantonalen Regierungen und gerade drei im Ständerat. In den kantonalen Parlamenten machten die Frauen zehn Prozent aus, im Nationalrat elf Prozent.
Knapp zehn Jahre später präsentierte sich die Situation nur ein wenig besser: Der Bundesrat war nach dem Rücktritt der ersten Bundesrätin, der Zürcher Freisinnigen Elisabeth Kopp, wieder ein reines Männergremium und in den Kantonen regierten gerade fünf Frauen (und 161 Männer). Im Ständerat hatten vier Frauen Einsitz. In den kantonalen Parlamenten machten die Frauen 15 Prozent aus, im Nationalrat 17 Prozent. Auf diesen Missstand hatte unter anderem auch der vielbeachtete nationale Frauenstreik vom 14. Juni 1991 hingewiesen.
Dynamik durch «Brunner-Effekt»
Die Nichtwahl von Christiane Brunner führte nicht nur zu einer breiten Mobilisierung in der Zivilgesellschaft. Auch die mediale Berichterstattung widmete sich in der Folge vermehrt der Untervertretung der Frauen in den politischen Institutionen. Befeuert wurde diese Diskussion durch mehrere parlamentarische Vorstösse und Volksinitiativen für die Einführung einer Geschlechterquote.
Erste Erfolge stellten sich umgehend ein: Bei den kantonalen Parlamentswahlen im März und April 1993 schnellte der Frauenanteil förmlich nach oben: Im Aargau stieg die Zahl der gewählten Frauen von 37 auf 63, in Solothurn von 16 auf 50 und in Neuenburg von 16 auf 32. Damit kamen die Frauen in den Kantonsparlamenten auf einen für die damalige Zeit hohen Anteil zwischen 28% (NE) und 35% (SO). Am stärksten profitierten von diesen Veränderungen die SP-Frauen: Im Aargau steigerten sie sich von 11 auf 29, in Solothurn von 6 auf 19 und in Neuenburg von 8 auf 16. Im Aargau und in Solothurn waren die Frauen in der SP-Delegation in der Mehrheit. Auch wenn die SP-Männer bei diesen Wahlen zwischen 10 und 14 Mandate verloren, ging die SP insgesamt gestärkt aus diesen Wahlen hervor.
Starker Vormarsch der Frauen in den Neunzigerjahren
Der Vormarsch der Frauen ging in den Neunzigerjahren nicht mehr im selben rasanten Tempo weiter wie unmittelbar nach dem 3. März 1993. Trotzdem waren die folgenden zehn Jahre für die Verbesserung der Gleichstellung der Frauen in der Politik die fruchtbarsten. Die Frauenvertretung verbesserte sich in sämtlichen politischen Institutionen. 2003 gab es im Bundesrat zwei Frauen (Ruth Dreifuss, Ruth Metzler), in den Kantonsregierungen betrug der Frauenanteil fast 22 Prozent, im Ständerat und in den Kantonsparlamenten je rund 24 Prozent und im Nationalrat 26 Prozent. Allerdings sei auch daran erinnert, dass am 10. Dezember 2003 die CVP-Bundesrätin Ruth Metzler (und nicht ihr Parteikollege Joseph Deiss) abgewählt und durch Christoph Blocher ersetzt wurde.
Die gewählten Frauen gehörten jedoch nicht allen Parteien gleichermassen an. Im Nationalrat und in den kantonalen Parlamenten waren die Frauen der rot-grünen Parteien relativ stark vertreten. Im Ständerat und in den Kantonsregierungen stellten dagegen SP und FDP die meisten Frauen. Von den 34 Frauen, die 2003 in einer kantonalen Regierung sassen, gehörten 11 der SP an und 12 der FDP (bzw. 15, wenn die Liberalen zur FDP gezählt werden). Ähnlich präsentierte sich die Situation im Ständerat: Von den 11 Ständerätinnen gehörten 4 der SP an, 2 der CVP und 5 der FDP.
Vorübergehende Frauenmehrheit im Bundesrat
Dieser Effort hob den Schweizer Frauenanteil auf ein Niveau, das im Vergleich mit den nationalen Parlamenten in Europa sogar überdurchschnittlich hoch war. Damit war die Schweiz in Sachen politischer Frauenrepräsentation kein europäischer Sonderfall mehr. Als im folgenden Jahrzehnt der Zuwachs der Frauenvertretung abflachte – im Ständerat gar rückläufig war –, war dies in der Öffentlichkeit kein Grund zur Beunruhigung: Immerhin waren die Frauen 2010 im Bundesrat erstmals in der Mehrheit (2 SP, 1 CVP, 1 BDP) und die Präsidien von National-, Stände- und Bundesrat waren alle in Frauenhand.
Allgemeiner abgeflachter Schwung
2011 gab es bei den Wahlen in den Nationalrat erstmals einen leichten Rückschlag. Dieser konnte aber bei den Wahlen 2015 wieder wettgemacht werden (32 Prozent). Stark rückläufig war dagegen die Frauenvertretung im Ständerat: Sie schmolz von 24 Prozent (2003) auf 15 Prozent. Dieser Rückgang hing namentlich mit den FDP-Ständerätinnen zusammen, deren Zahl um sechs auf 1 zurückging. Damit wurde im Ständerat der «Brunnereffekt» der Neunzigerjahre wieder rückgängig gemacht.
In den kantonalen Parlamenten verlief die Entwicklung der Frauenvertretung ähnlich wie im Nationalrat. Nach einer längeren Stagnation beträgt er zur Zeit 27 Prozent. In den Kantonsregierungen bewegt sich der Frauenanteil seit einigen Jahren – nach einem leichten Rückgang auf unter 20 Prozent (2007) – um 24 Prozent.
Symbolisch wichtige Frauenvertretung im Bundesrat
Während der verlorene Schwung der letzten Jahre nicht besonders zur Kenntnis genommen wurde, erregte in letzter Zeit die Vorstellung, dass nach einem Rücktritt von Doris Leuthard im Bundesrat nur noch eine Frau vertreten sein könnte (Simonetta Sommaruga), grösseres Aufsehen und es wurde – wie in den Neunzigerjahren – vorgeschlagen, eine angemessene Frauenvertretung mit Quoten abzusichern. Die Fronten zu dieser Forderung dürften wieder ähnlich verlaufen wie damals: Die Linken und Grünen, welche beide eine paritätische Geschlechtervertretung in den politischen Institutionen aufweisen, begrüssen solche Massnahmen, während die Bürgerlichen und Rechten nichts davon wissen wollen. In den Neunzigerjahren haben CVP und vor allem die FDP gezeigt, dass sie über genügend geeignete Frauen verfügen und diese auch in Regierungen und Parlamente bringen können. Die Parteien müssten aber wollen.