Khamenei begründet damit, warum die Hilfe ausländischer Mediziner im Iran unerwünscht ist. Und auch der iranische Aussenminister hält US-Präsident Trump für verantwortlich für Irans Corona-Tote: Schuld seien die Sanktionen, twittert er.
Wer regiert den Iran? Wie viele Machtzentren gibt es dort und welches davon hat das letzte Wort, wenn es um existenzielle Fragen geht? Und hat das Leben der Untertanen dort überhaupt noch einen Wert? Lebenswichtige Fragen, gerade in diesen Epidemiezeiten, wo es um das Leben von zehntausenden Menschen geht.
Gescheiterter Einsatz der Ärzte ohne Grenzen
Vielleicht sollte man Michel Olivier Lacharité nach den Antworten fragen. Der Franzose managt die Einsätze der medizinischen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Und er hat im Iran gerade ebenso wertvolle wie schmerzliche Erfahrungen gemacht. Der gescheiterte Einsatz der Ärzte ohne Grenzen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus im Iran spricht Bände über dessen System, über den kalten Zynismus der Mächtigen in Teheran und darüber, welch ein zynisches Spiel die Herrscher mit dem Leben der eigenen Bevölkerung treiben. Und wenn Lacharité erzählt, was sein Team erlebt hat, versteht man, wer in der Islamischen Republik am Ende entscheidet und wie kurios und dubios dort manche Entscheidungen zustande kommen. Zugleich offenbart seine Geschichte die Funktionsunfähigkeit dieses Systems.
Alle wollten Hilfe, zunächst
Nach wochenlangen Verhandlungen glaubte Lacharité den Einsatz der Ärzte ohne Grenzen im Iran gut vorbereitet und alle wichtigen Leute an der Spitze der iranischen Regierung informiert zu haben. Der iranische Botschafter in Paris, Bahram Ghassemi, hatte ja selbst um den Einsatz gebeten und alles dafür in die Wege geleitet, Irans Aussenminister Mohammed Javad Zarif hatte sich persönlich dafür engagiert, selbst Staatspräsident Hassan Rouhani und Geheimdienstminister Mahmud Alavi waren in die Einzelheiten des Einsatzes eingeweiht. Die aufwändigen Vorbereitungen hatten mehrere Wochen gedauert, praktisch seit Beginn der Corona-Epidemie im Iran.
Endlich flog am vergangenen Montag eine Chartermaschine Richtung Iran, am Bord ein neun Mann starkes Ärzteteam, darunter zwei Intensivmediziner und 26 Tonnen Ausrüstung für den Aufbau eines Fünfzig-Betten-Krankenhauses, um in Isfahan Coronapatienten auf Intensivstationen zu versorgen. Allein die Ausrüstung für den Einsatz soll laut Ärzte ohne Grenzen eine Million Euro gekostet haben. Doch kaum in Isfahan angekommen, erfuhr das französische Helferteam, es müsse den Iran umgehend wieder verlassen: Seine Hilfe sei nicht mehr erwünscht.
Warten auf Khameneis Ansprache
Nachträglich wünscht man sich, Lacharité hätte die Nachrichten aus dem Iran besser verfolgt, bevor er sein Team dorthin losschickte. Einen Tag zuvor hatte Revolutionsführer Ali Khamenei nämlich eine Rede zum iranischen Neujahrsfest gehalten. Hätte Lacharité diese gehört, hätte er wissen können, was dann kam.
Schon Tage zuvor hatten Irans offizielle Medien berichtet, eine wegweisende Ansprache stehe bevor, Khamenei wolle am Sonntag angesichts der Corona-Epidemie eine Wende in der Aussenpolitik verkünden. Andere gingen sogar noch weiter und meinten, der Revolutionsführer werde etwas über seine Nachfolge bekanntgeben.
Eine amerikanische Biowaffe
Doch Khamenei blieb sich treu. Er hielt eine 45-minütige Rede, in der es wie immer von Feinden, Verschwörern und Verrätern nur so strotzte, von der Islamischen Republik feindlich gesinnten Bösen, irdischen ebenso wie überirdischen – und diesmal natürlich alles mit dem Coronavirus als Mittelpunkt.
Die USA stünden unter dem Verdacht, das Virus als biologische Waffen produziert und für seinen Einsatz im Iran sogar extra genetisch verändert zu haben, war Khameneis ungeheuerliche These. Und wenn die USA jetzt anbieten würden, Mediziner in den Iran zu schicken, gehe es nur darum, an Ort und Stelle festzustellen, wie ihr Virus funktioniere. „Ausserdem könnten sie den Iranern Medikamente verabreichen, die das Virus noch mehr verbreiten oder dazu führen, dass es dauerhaft im Iran bleibt“, erklärte Khamenei. Und er ergänzte hämisch, die Amerikaner seien ja nicht einmal in der Lage, ihren eigenen Bürgern zu helfen.
Eine Armee der „Experten“
Und wie immer, wenn der Revolutionsführer eine „bahnbrechende“ Theorie aufstellt, meldete sich prompt eine Armee von „Theoretikern“, „Experten“, Publizisten und Predigern, die ihre weitergehenden Kenntnisse zur Bestätigung beisteuerten. Eine Zeitung berichtete, das Geheimdienstministerium habe eine Abteilung zur Bekämpfung von „Dschinns“, überirdischen Bösen, gegründet, was eine andere Webseite jedoch dementierte.
Doch am ausführlichsten nahmen sich die „Experten“ der These von Corona als amerikanischer Biowaffe an. Molekularbiologen sprachen im Fernsehen, Militärexperten referierten über die Geschichte des Einsatzes von Biowaffen, der Zivilschutz informierte, wie die Menschen sich schützen können. Und die Revolutionsgarden starteten ein landesweites Manöver gegen Biowaffen, das noch andauert.
Der mächtige Leitartikler
Auch Hossein Schariatmadari, Chefredakteur der Tageszeitung Keyhan und Khameneis Lieblingspublizist, widmete seinen Leitartikel Khameneis Rede und nahm sich ausführlich die feindseligen Machenschaften vor, die die Franzosen in den vergangenen vierzig Jahren gemeinsam mit den USA gegen die Islamische Republik gerichtet hätten. Am Ende seines feurigen Artikels fragte der mächtige Journalist, wer sich denn eigentlich erlaubt habe, diese „dubiose Organisation“ aus Frankreich ins Land zu lassen, die unter der Bezeichnung Ärzte ohne Grenzen firmiere – frage sich denn niemand, ob sie nicht im Auftrag Amerikas gekommen sei?
Damit war es um die Helfer aus Frankreich geschehen. Nach diesem Artikel wusste jeder, dass die Ärzte ohne Grenzen ihre Arbeit im Iran nicht würden aufnehmen können. Nur Lacharité zeigte sich am Dienstag in Paris überrascht, dass die Genehmigung für den Hilfseinsatz widerrufen wurde: „Die Notwendigkeit unserer Arbeit war mit allen zuständigen Stellen des Landes besprochen worden.“ Offenbar aber nicht mit den wahren Zuständigen.
Zynisch und menschenverachtend
Die Affäre um den Einsatz der Ärzte ohne Grenzen im Iran zeigt wieder einmal den kalten und menschenverachtenden Zynismus, der den Mächtigen der Islamischen Republik stets eigen war. Es ging und geht immer nur darum, die Hirngespinste und Verschwörungstheorien des Revolutionsführers als Wahrheit zu preisen. Und dafür ist man jetzt sogar bereit, das Leben der eigenen Bevölkerung zu opfern. So einfach, so beängstigend ist die Macht der Herrschenden. Selbst machtlos gegenüber dem Virus, das inzwischen unkontrolliert im ganzen Land grassiert, predigen sie unentwegt, die ausländischen Sanktionen seien an der Ausbreitung der Krankheit und dem Elend der Bevölkerung Schuld.
Iran, gefährlicher Hotspot
Italien, Spanien oder China mögen das Coronavirus eines Tages im Zaum halten können. Der Iran jedoch wird sich zu einem gefährlichen Hotspot der Epidemie für die ganze Welt entwickeln, wenn die Teheraner Machthaber ihre bisherige Politik fortsetzen. Die im US-amerikanischen Baltimore ansässige Johns Hopkins Universität gab zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen (26. März, 18.00 Uhr) die Zahl der Infizierten im Iran mit 29’406, die der Toten mit 2’234 an. Doch das sind Angaben, die auf offiziell verfügbaren Zahlen beruhen. Wie viele Menschen im Iran tatsächlich an der vom Coronavirus ausgelösten Lungenkrankheit Covid-19 erkrankt oder gestorben sind, weiss niemand. Sicher ist nur, dass keiner den offiziellen Zahlen traut.
„Unsere Corona-Statistik ist Teil unserer Krankheit“, das Ausmass der Epidemie im Iran sei noch viel grösser als in China, sagt etwa Masoud Mardani von der Teheraner Beheshti-Universität für medizinische Wissenschaft. Der Professor für Infektionskrankheiten muss es wissen: Er ist Mitglied des Stabes für die Bekämpfung der Corona-Epidemie.
Bis zu 3,5 Millionen Iraner und Iranerinnen könnten durch das Coronavirus sterben, haben Wissenschaftler der Teheraner Sharif-Universität für Technologie errechnet.
Hilfe ja – aber nur Cash
Irans Aussenminister Zarif macht jedoch auf Twitter US-Präsident Donald Trump für alle Iranerinnen und Iraner verantwortlich, die dem Virus zum Opfer fallen. Medizinische Hilfe aus dem Ausland brauche man nicht, schrieb auch er, der Iran habe die besten Spezialisten der Welt und könne diese sogar anderen Ländern zur Verfügung stellen. Allein finanzielle Probleme erschwerten die wirksame Bekämpfung der Epidemie. Und wer dafür verantwortlich ist, scheint klar: die USA.
Dennoch: Das Virus schafft offenbar eine internationale Atmosphäre, in der sich die Forderung nach einer Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran legitim anhört. Teheran will internationale Hilfe – aber keine medizinische, sondern Cash.♦
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal