Dass kantonale Wahlen in der Romandie national Schlagzeilen machen, kommt selten vor. Dieses Wochenende wurde aber breit vermeldet, dass die Frauen erstmals seit der Einführung des Frauenstimmrechts bei den Wahlen in das kantonale Parlament von Neuenburg die Mehrheit der Mandate holten. 58 der hundert Sitze gingen an sie.
Die parteipolitische Zugehörigkeit der gewählten Frauen entspricht dem Muster, das seit Jahrzehnten bei Proporzwahlen bekannt ist: Viele Frauen bei den rotgrünen Parteien; je weiter rechts sich eine Partei positioniert, desto kleiner ist der Frauenanteil. In Neuenburg sind die Frauenanteile bei fast allen Parteien aber deutlich grösser als in den anderen Kantonen.
Höchste Frauenanteile bei fast allen Parteien
Bei den Ökoparteien erreichte der Frauenanteil 79 (Grüne) bzw. 75 Prozent (GLP). Ebenfalls in der Mehrheit waren die gewählten Frauen bei der SP (71%) und bei den Kommunisten (63%). Bei der FDP wurden 41 Prozent Frauen gewählt, bei der SVP 38 Prozent und bei der kleinen «Mitte», der ehemaligen CVP, 25 Prozent. Abgesehen von der CVP bilden dies für alle Parteien die höchsten Frauenanteile im Vergleich zu allen anderen kantonalen Parlamenten.
Neuenburg vor Basel und Zürich
Damit löst der Kanton Neuenburg den Kanton Basel-Stadt als Spitzenreiter ab, welcher im vergangenen Jahr mit einem Frauenanteil von 42 Prozent Aufsehen erregt hatte. Am dritthöchsten ist der Frauenanteil in Zürich (41%), am vierthöchsten in Basel-Landschaft (40%).
Am geringsten sind die Frauen in Appenzell Innerrhoden, Nidwalden, Glarus und Graubünden vertreten (zwischen 22% und 24%) sowie in Schwyz (9%).
Vergleichbar mit dem «Brunner-Effekt»
In der Geschichte der Frauenvertretung gab es erst einmal eine Phase, in der der Frauenanteil massiv anstieg: Sie wurde 1991 eingeleitet durch den ersten nationalen Frauenstreik und wurde massiv beschleunigt durch die Nicht-Wahl von Christiane Brunner in den Bundesrat vom März 1993. Als im März und April 1993 in drei Kantonen Parlamentswahlen stattfanden, schnellten bei diesen die Anteile der gewählten Frauen förmlich nach oben: Im Aargau stieg der Frauenanteil von 18,5 auf 31,5 Prozent, in Solothurn von 11 auf 35 Prozent und in Neuenburg von 14 auf 28 Prozent.
Der in Neuenburg verzeichnete Anstieg der Frauenvertretung um 24 Prozentpunkte entspricht in etwa dem Anstieg bei den Wahlen in Solothurn von 1993. Ein markanter Unterschied zu den Neunzigerjahren besteht jedoch: Vom «Brunner-Effekt» profitierten die SP-Frauen am stärksten, bei den jüngeren Wahlen stiegen meistens auch die Frauenanteile der anderen Parteien markant an.
Thematisieren wirkt
Nachdem in den 2000er- und 2010er-Jahren das Wachstum der Frauenvertretung in der Politik abgeflacht war, kam es ab 2018 zu einer Revitalisierung. Im Zuge des zweiten nationalen Frauenstreiks und der Aktivitäten der überparteilichen Kampagne «Helvetia ruft!» stieg die Frauenvertretung im National- und im Ständerat sowie in den kantonalen Parlamenten deutlich an, mit dem aktuellen Neuenburger Ergebnis als Höhepunkt. Die Ermunterung der Frauen zur Kandidatur durch «Helvetia ruft!», ihre konkrete Unterstützung und das Öffentlich-Machen der Prozesse der Nominierung und der Listengestaltung der Parteien zeigen Wirkung. In Neuenburg dürften zusätzlich die Diskussionen über die Einführung von Geschlechterquoten sowie über die drohende Möglichkeit einer Regierung ohne Frauen mobilisierend gewirkt haben.
Kein flächendeckender Vormarsch
Seit den eidgenössischen Wahlen vom Herbst 2019 fanden in elf Kantonen Parlamentswahlen statt und in den meisten steigerten die Frauen ihre Vertretung. Neben Neuenburg, wo die Zunahme 24 Prozentpunkte betrug, erhöhte sich der Frauenanteil im Wallis um 15 Punkte, in Basel-Stadt um elf und in St. Gallen und Thurgau je um acht Prozentpunkte. In drei Kantonen wuchs die Frauenvertretung aber nur gerade um einen bis drei Prozentpunkte an (SO, UR, SH) und im Jura stagnierte sie. In den Kantonen Schwyz und Aargau sank sie gar um fünf Prozentpunkte.
Sieben Kantonsregierungen ohne Frauen
Zu denken geben muss die Entwicklung der Frauenvertretung bei den Wahlen in die Kantonsregierungen. In drei Kantonen haben zwar einerseits die Frauen die Mehrheit inne (ZH, TG, VD), in sieben Kantonen aber regieren andererseits mittlerweile ausschliesslich Männer (LU, UR, AR, GR, AG, TI, VS). Dabei waren 2014 die Frauen in jeder Kantonsregierung vertreten gewesen. Diese anachronistische Entwicklung ist primär auf ein Versagen der Parteien bei der Personalpolitik zurückzuführen. Die Scheinwerfer der Öffentlichkeit müssen künftig auch vermehrt auf das Vorfeld der Wahlen in die Regierungen gerichtet werden.
Link zu den Zahlen des Bundesamtes für Statistik: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/politik/wahlen.html
Zur Frauenvertretung in der Schweizer Politik seit 1971:
Werner Seitz: «Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900». Zürich 2020 (Chronos Verlag)