Noch dienen zahlenbasierte, materiell messbare Waren und Dienstleistungen als Gradmesser unseres Wohlstands. Dass dieser mehr einschliesst, damit befassen sich jetzt zukunftsorientierte Wissenschaftler. Sie haben eine ganzheitliche Messpalette entwickelt.
Um den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die jährlich in einem Land hergestellt werden, zu erfassen, benutzen wir als Messgrösse die Statistik «Bruttoinlandprodukt (BIP)». Seit 40 Jahren steigt das BIP und macht den Fortschritt sichtbar und den Vergleich mit anderen Ländern möglich. Allerdings wird dieser Wachstumsindikator seit Jahren kritisiert: Tatsächlich bildet er nur einen Teil der Wirklichkeit ab. Ein Vorschlag zur Verbesserung, der auch andere Leistungen umfasst, liegt jetzt vor.
Aktueller Stand des BIP Schweiz
Das BIP der Schweiz ist von 343 Milliarden US-Dollar (1995) auf 679 Mia. $ (2018) gestiegen. Die entsprechenden pro Kopf-Werte sind 46’000 $ (1995) und 80’000 $ (2018). Mit diesen pro Kopf-Werten liegt die Schweiz an zweiter Stelle von 193 Ländern, nur von Luxemburg geschlagen. Eine starke Leistung.
Wohlstand neu definiert
Um die Fragmentierung unserer Gesellschaften aufzuhalten und unsere Wirtschaft nachhaltiger zu gestalten, brauchen wir Richtungsweiser für Politik und Wirtschaft, die weit mehr messen als das bisherige BIP. In der Gegenwart muss die Messung von Wohlstand soziale Solidarität und persönliche Befähigung berücksichtigen, ebenso wie ökologische Nachhaltigkeit. Diese Meinung vertreten Professor Dennis J. Snower, Präsident der Global Solutions Initiative, und Dr. Katharina Lima de Miranda, Wissenschaftlerin am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Gleicher Ansicht sind viele Fachleute, die sich mit der Materie befassen. Snower: «Dass Wohlstand bislang rein materiell definiert wurde, ist mitverantwortlich für die Entkoppelung von wirtschaftlichem und sozialem Wohlstand – und damit für den zunehmenden Populismus sowie die Gegenreaktionen auf Globalisierung und Multilateralismus.»
Aus diesen Überlegungen heraus haben die beiden das «Recoupling Dashboard» entwickelt, ein «Wohlstands-Armaturenbrett», das vier Dimensionen misst: Befähigung, gesellschaftliche Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, wirtschaftlicher Wohlstand. Dieses neue Messverfahren soll den wirtschaftlichen Wohlstand mit unserem sozial-ökologischen Wohlstand koppeln und damit ein neues Verständnis in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fördern.
Nun ist Recoupling Dashboard nicht gerade eine leicht verständliche Bezeichnung für dieses fortschrittliche Projekt, zu Deutsch wäre vielleicht «Nachhaltiges Netzwerk» verständlicher. Auch für die Bezeichnung BIP plädiere ich bei dieser Neuorientierung für eine alternative Bezeichnung: Bruttoinlandsstatus (BIS) und statt wie bisher Gross domestic product (GDP) neu Gross domestic condition (GDC).
Rasches Umdenken tut not
Die Global Solutions Initiative ist ein weltweites Think-Tank-Netzwerk, das forschungsbasierte Politikempfehlungen für globale Probleme gibt. Diese Empfehlungen und strategischen Visionen werden durch führende Forschungsinstitutionen formuliert und in politischen Dialogen zwischen Wissenschaftlern, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entscheidungsvertretern ausgearbeitet. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) ist eines der grossen Zentren weltwirtschaftlicher Forschung, wirtschaftspolitscher Beratung und ökonomischere Ausbildung. Das Institut sieht seine Hauptaufgabe in der Erforschung innovativer Lösungsansätze für drängende weltwirtschaftliche Probleme.
Dass sich diese beiden renommierten Institute zusammengetan haben, um einen denkwürdigen Schritt in die Zukunft zu initiieren, ist beachtenswert und hoch willkommen. Sie beweisen mit ihrem Projekt «Recoupling Dashboard» viel mehr als einfach ein der Zeit angepasstes Messinstrument zu formulieren. Sie haben erkannt, dass das rein Rationale – das Messen, was in Zahlen vorliegt – mit dem Emotionalen – schwieriger zu erfassenden, aber eben auch sehr wichtig – zu kombinieren ist, will man nicht das Risiko eingehen, einen Grossteil der entscheidenden Lebensgrundlagen zu verpassen.
Sie haben erkannt, dass der Druck der Globalisierung und die Anforderungen der Digitalisierung viele Menschen überfordert und diese schlicht Angst vor der Zukunft haben. Diese fühlen sich zunehmend entmündigt und nehmen wahr, dass ihre Fähigkeit schwindet, ihr Leben selbständig zu gestalten. Aus diesem Gefühl der Entfremdung und Entmachtung hat sich der Populismus und eine «Me-First»-nationalistische Identität entwickelt. Somit ist dieses Recoupling Dashboard ein wichtiger Schritt nach vorn und einer, der eine Welt näherbringt, in der die Wirtschaft auch wieder etwas für die Gesellschaft leistet. Ein Solidaritäts-Projekt, das der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken kann.
Das wird bewertet
Unter dem Begriff Befähigung sollen z. B. bewertet werden: Arbeitsmarktsicherheit, Lebenserwartung, Ausbildungsjahre, auch das Bedürfnis, sein Schicksal durch eigene Anstrengungen beeinflussen zu können. Mit gesellschaftlicher Solidarität ist gemeint: Spendenvolumen, Ehrenämter (Milizgedanke), Hilfsbereitschaft. Also die Bedürfnisse der Menschen als soziale Wesen mit dem Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit. Ökologische Nachhaltigkeit fasst u. a. CO₂-Emissionen, Artenvielfalt, Wasservorräte zusammen und mit dem wirtschaftlichen Wohlstand ist das heutige BIP gemeint.
Damit erhält die ökonomische Lehrmeinung mit auf Wachstum angelegtem Paradigma und dominantem Shareholder Value mit ihren in Zahlen messbaren Indikatoren eine überfällige Ergänzung, da sich dieses alte Denken angesichts der globalen Herausforderungen «kaum als Zukunftsmodell eignet. Sie sind als Analyseinstrumente unzulänglich und inzwischen mehr Teil des Problems als Teil der Lösung» (DIE ZEIT).
Beginnt in diesen Tagen tatsächlich ein Umdenken auf breiter Front? Ist langfristig angelegtes, ganzheitliches Denken im Vormarsch gegenüber dem fragmentierten Fokus auf kurzfristige Teilaspekte? Wird Wohlstand neu definiert?