Die Konservativen sagen: Zuwanderung begrenzen, jetzt oder nie! Die migrationspolitisch progressiv Positionierten fordern: Zuwanderung regulieren, aber keine Obergrenze! Und jetzt, wie weiter? Von Dichtestress ist die Rede. «Grenzen zu», rufen die einen. «Zuwanderung reduzieren», raten Besorgte – ohne von der Alternative längerer Arbeitszeiten zu reden.
Für nicht wenige Parteien ist das starke Bevölkerungswachstum indes kein Problem. Alle liegen sie ein bisschen richtig, gleichzeitig bringen uns Forderungen allein einer Lösung nicht näher.
Zuhören, nachdenken, handeln
Im Hinblick auf die kommenden Parlamentswahlen im Herbst 2023 läuten bereits die medialen Sturmglocken. Bei der Führung in der ewigen Zuwanderungs- resp. Überfremdungsdebatte hat sich – um in der Sprache der Tour de Suisse zu reden – die SVP an die Spitze der Ausreissergruppe gesetzt, mit einigem Abstand vor dem Feld der Zögerlichen und Abwartenden. Das Schlusslicht des Trosses bilden ein paar Abgehängte, die noch immer nicht kapiert haben, dass die Migration tatsächlich ein ernstzunehmendes Problem darstellt, also jene, die das alles verdrängen.
Ganzheitlich denken, bitte!
Zuwanderung, Migration, der Ruf nach der Drei- oder Viertagewoche, Frühpensionierung, längere Arbeitszeiten, Neun- oder Zehnmillionen-Schweiz, unbändiges Stellenwachstum, Zubetonierung der Schweiz, Blockade der Bilateralen – alles hängt mit allem zusammen.
Nicht zielführend sind die schrillen Forderungen, die jetzt medial verbreitet werden: Schluss mit der Personenfreizügigkeit! Zuwanderung begrenzen! Sofort: Arbeitszeitreduktion! Zuwanderung begrenzen heisst länger arbeiten! Frühpensionierung ab 55 oder 60, längst überfällig! 10-Millionen-Schweiz ist kein Problem! Staatliches Eingreifen gegen Stellenwachstum und Zunahme der Teilzeitarbeit!
Die helvetische Zuwanderungsdebatte endet seit Jahrzehnten im Chaos. Haben wir denn nichts gelernt? Die Diskussionen über Teilaspekte eines veritablen Problems bringen uns nicht weiter. Zudem verkennen solche Scheingefechte, dass der egoistische Blick nach innen nicht weiterhelfen kann – die anschwellenden Migrationsbewegungen lassen sich damit nicht eliminieren. Der Ruf nach Zuwanderungsregulierung ohne Obergrenze ist Wunschdenken. Grenzen schliessen ist unproduktives, altes Denken.
Das Problem der Teilzeitarbeitsstellen
Der akute Personalmangel, z. B. im Gesundheitswesen oder im Schulbereich, wird durch den Wunsch des gestressten Personals, weniger arbeiten zu müssen, beeinflusst. Wo das nicht möglich ist, wird gekündigt. Das verschlimmert die Situation. Eine solche Reaktion des betroffenen Personals ist verständlich, setzt jedoch voraus, dass es den Menschen auch mit weniger Einkommen sehr gut geht. Andererseits wird postuliert, dass – gäbe es überall Teilzeitarbeitsmöglichkeiten – mehr Personen arbeiten würden und der Arbeitskräftemangel gelöst wäre. Dazu die hypothetischen Rechnungen:
100 Personen mit 5-Tagewoche ergeben 500 Arbeitstageleistung
100 Personen mit 4-Tagewoche ergeben 400 Arbeitstageleistung
130 Personen mit 4-Tagewoche ergeben 520 Arbeitstageleistung
Um das Problem lösen zu können, müssten also mindestens 30 Personen mit Teilzeitpensum die Arbeit (wieder) aufnehmen, dann wäre die Arbeitsleistung tatsächlich höher als zuvor. Die Frage lautet also: Wie gelingt es, ein Drittel mehr Teilzeitarbeitende zu motivieren, (wieder oder neu) eine Stelle anzutreten. Antwort: z. B. mit einem attraktiven Anreizsystem.
Das Problem der Zuwanderung
Namhafte Ökonomen meinen heute: Wer die Zuwanderung reduzieren möchte, müsse die Alternative dazu kennen: längere Arbeitszeiten, weniger Komfort, ein schlankerer Staat (NZZ am Sonntag). Diese Warnung geht davon aus, dass es mehr Menschen brauchen würde, die längere Arbeitszeiten (also auch spätere Pensionierung und weniger Freizeit) akzeptierten. Die auch damit einverstanden wären, dass der Haushaltabfall weniger oft entsorgt, die Büros nur noch alle zwei Wochen statt einmal wöchentlich gereinigt würden. Und dass Staatsstellen zur Eliminierung von Doppelspurigkeiten abgebaut werden müssten.
Das ist – mit Verlaub – in der verwöhnten Schweiz heute undenkbar. Die Konsequenzen einer solchen Therapie würden nicht akzeptiert. Die beiden Ökonomen Christoph Schaltegger und Boris Zürcher haben sich kürzlich ein Streitgespräch geliefert. «Zuwanderung macht uns fett», meinte Schaltegger, Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Darauf Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco): «Nein, sie bringt uns Top-Leute.» Die NZZ widmete den beiden vier ganze Seiten (davon 2,5 Seiten Fotos) – das Resultat: keines, nur unüberwindbare gegensätzliche Meinungen.
Diskutieren statt poltern, liefern statt fordern
Die Suche nach neuen, mehrheitsfähigen Lösungen setzt voraus zu realisieren, dass die Zeiten der konservativen Polterer – die SVP verfügt über mehrere solcher «Persönlichkeiten» – und der progressiven Forderinnen – wie die SP-Chefin mit ihrer Forderung nach mehr Mietrecht – vorbei sind.
Ernsthaft Suchende können eher weiterhelfen. So macht der Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann einen bedenkenswerten Vorschlag, wie der akute Fachkräftemangel mit einem ernsthafteren Inländervorrang angegangen werden könnte. «Es gibt sicher Varianten, in denen man von den Arbeitgebern mehr einfordern könnte. Hier braucht es den Staat» (Tages-Anzeiger).
Ein bedenkenswerter Vorschlag. Gesucht werden jetzt weitere Vorschläge. Schon seit vielen Jahren versucht der Ökonom Reiner Eichenberger Unterstützung für seine Idee einer Zuwanderer-Abgabe zu finden. Zuwanderung soll für die Zuwanderer etwas kosten. So würde der Nettonutzen der Personenfreizügigkeit nicht nur negativ sein (Tages-Anzeiger).
Das schubladisierte EU-Dossier
Über die Zuwanderung darf nicht diskutiert werden, ohne auf die blockierten Bilateralen hinzuweisen – dies werde ich in einem ausführlichen Beitrag im April 2023 tun.
Die europäische Migrationskrise
In diesem Beitrag gilt der Fokus innenpolitischen Aspekten. Es darf jedoch nicht vergessen gehen, dass Europa vor einer neuen Welle der Migration über das Mittelmeer steht. In Tunesien, Libyen, Syrien, Libanon, Marokko, überall sehen wir eine deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. «Laut dem Forschungsnetzwerk Arab Barometer wollen zwischen 30 und 65 Prozent der jungen Menschen in arabischen Staaten auswandern», warnt der Magreb-Spezialist Beat Stauffer in der NZZ und fragt besorgt, wie sich denn die Aussengrenzen human schützen lassen angesichts der Entschlossenheit der Migranten.
Die Symbolkraft des runden Tisches
Zurück in die Schweiz. Ein runder Tisch in Bern sei das Gebot der Stunde, schrieb ich weiter oben. Ich habe persönlich als Lokalpolitiker damit sehr gute Erfahrungen bei der Lösungssuche für überkommunale Probleme gemacht. Der runde Tisch verbindet die Diskussionsteilnehmenden.
Ziemlich das Gegenteil wird uns auf TV SRF1 mit der Sendung «Club» regelmässig vorgeführt. Das sitzen die Eingeladenen in einem grossen Kreis, besorgt darauf, sich gut zu präsentieren. Spricht eine Person, schauen ihr die anderen mit stoischer Miene – oft leicht überheblich lächelnd – zu, mit verschränkten Armen, als wollten sie signalisieren: Ist ja schon recht, was du da erzählst, aber in Wirklichkeit ist alles ganz anders. Dann setzt der eben noch lächelnde Sitznachbar zu seiner fulminanten Deklamation an und folgt seiner parteipolitischen – natürlich einzig richtigen – dogmatischen oder ideologischen Prägung. Auf diese Weise wird keine Lösungsidee zustande kommen.
Dringend gesucht werden jene politischen Kräfte in Bern, die bereit sind, über die parteipolitischen Grenzen hinweg nach einer Lösung zu suchen.