Die grundsätzliche Schwierigkeit des Richters besteht darin, dass er einen Sachverhalt nie direkt wahrnimmt. Der Fall, um den es im Prozess geht, hat sich irgendwann und irgendwo abgespielt. Aber der Richter war nicht dabei. Ihm liegen Klageschriften, vielleicht Protokolle der Polizei, Zeugenaussagen oder Gutachten vor. Das sind die Elemente, aus denen er sich ein „Bild“ machen muss.
Welche Farbe hatte das Auto?
Wie aber geht er dabei vor? Es ist das grosse Verdienst von Hans-Joachim Strauch, jahrzehntelange Diskussionen zusammenzufassen und ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen in den Blick zu nehmen. Strauch war Präsident des Thüringer Oberverwaltungsgerichts (Weimar) und Richter am Bundesverwaltungsgericht, dazu Professor in Jena. Die Systematik der Rechtsprechung ist sein Thema. Entsprechend umfangreich wurde das Buch.
Dabei kommen aber nicht nur für den Juristen, sondern auch für den interessierten oder vielleicht betroffenen Laien wertvolle Einsichten zustande. Wie urteilt der Richter zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall? Ein Zeuge beschreibt den Unfallhergang plausibel, und seine Aussage deckt sich teilweise mit Aussagen anderer Zeugen und auch einigen Gutachten. Es gibt aber ein Problem: Der Zeuge gibt beim Verursacherfahrzeug eine falsche Farbe an. Ist seine Aussage deswegen wertlos? Und wie steht es überhaupt mit der Glaubwürdigkeit von Zeugen?
Eine Frage der Abwägung
Der Richter weiss, dass sich Zeugen sehr häufig bei Details wie Farben eklatant irren. Doch kann ihre Wahrnehmung des gesamten Sachverhalts durchaus zutreffend sein. Aber das ist im konkreten Fall eine Frage der Abwägung.
In diesem Zusammenhang unternimmt Strauch Exkursionen in die Neurobiologie und verwandter Wissenschaften, um sich mit dem Phänomen des Gedächtnisses auseinanderzusetzen. Nach neuerer Erkenntnis ist das Gedächtnis nicht einfach ein Speicher oder ein Archiv, in dem die Inhalte unwandelbar abgelegt werden. Vielmehr gibt es eine Reihe von Einflüssen, die die Erinnerungen nachträglich verändern. Der Richter steht also auf schwankendem Grund, auch wenn der Zeuge von seiner Erinnerung felsenfest überzeugt ist.
Objektive Wahrheit?
Noch heikler ist diese Frage bei medizinischen Kunstfehlerprozessen. Da stehen manchmal mehrere hoch qualifizierte oder zumindest hoch bezahlte Gutachter gegeneinander, und der Richter ist ein medizinischer Laie. Wie kann er sich aus dem Wust unterschiedlicher Expertenmeinungen ein Urteil darüber bilden, ob im vorliegenden Fall ein Kunstfehler vorliegt oder nicht? Und wenn ja, muss dem Arzt Fahrlässigkeit unterstellt werden?
Hans-Joachim Strauch beschreibt, wie in der Rechtstheorie lange Zeit versucht wurde, den Erkenntnisprozess des Richters als etwas Objektives zu beschreiben. Das heisst, es wurde unterstellt, dass es so etwas wie eine objektive Wahrheit gibt. Aufgabe des Richters wäre es demnach, sich dieser Wahrheit so weit wie möglich anzunähern.
Diese Position ist in den Augen von Strauch nicht mehr haltbar. Denn der Richter wird nicht beanspruchen können, im Besitz der objektiven Wahrheit zu sein. Bestenfalls stützt er sich auf einen Experten, der ihn überzeugt, aber es gibt andere Experten, die zum gleichen Faktum ganz andere Positionen vertreten.
Der Zahn der Zeit
Dazu kommt ein zweites grundsätzliches Problem. Der Richter muss nicht nur den „wahren“ Sachverhalt aufklären, sondern er muss zugleich entscheiden, welche straf- oder zivilrechtlichen Gesetze in diesem Fall greifen. Dazu genügt es aber nicht, einfach in den Gesetzbüchern nachzuschlagen. Vielmehr gilt es auch, die entsprechende Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte zu berücksichtigen. Denn das Recht befindet sich im Fluss.
Diese Veränderung des Rechts hängt mit der laufenden Veränderung der Gesellschaft zusammen. Bestimmte Normen, die früher unumstösslich galten, gelten heute nicht mehr. Entsprechend können Gesetze, die vor 100 Jahren in Kraft traten, heute als völlig antiquiert empfunden werden. Das muss der Richter berücksichtigen, aber er darf nicht einfach dem Zeitgeist folgen.
Kohärenz
Sachverhalte, die nicht „objektiv“ sind, und das Recht, das sich in einem beständigen Wandel befindet, führen in den Augen von Hans-Joachim Strauch und anderer Rechtsexperten zu der Forderung, dass richterliche Entscheidungen „kohärent“ zu sein haben. Zur Kohärenz gehören verschiedene Kriterien. So dürfen die Argumente und Begründungen der Richter nicht in sich widersprüchlich sein. Und die Urteile müssen sich in die Praxis der allgemeinen Rechtsprechung einfügen, oder sich, wie Strauch schreibt, auf „anerkannte Sätze“ stützen können.
Für den Laien besonders spannend ist eine Auseinandersetzung, die Strauch mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas führt. In „Faktizität und Geltung“ hatte Habermas im Jahr 1992 diese Theorie auf den Bereich der Jurisprudenz übertragen. Er war also der Meinung, dass seine Wahrheitstheorie auch hier Anwendung finden könne und müsse.
Habermas
Denn Habermas glaubt daran, dass sich die Wahrheit unter optimalen Gesprächsbedingungen ermitteln lasse. Diese liegen dann vor, wenn alle Gesprächsteilnehmer völlig frei ihre Gesichtspunkte zum Thema vortragen können. Im Zuge dieses unbeeinträchtigten Diskussionsprozesses, so glauben Habermas und seine Adepten bis heute, erscheint irgendwann die Wahrheit.
Hans-Joachim Strauch argumentiert nun, dass sich die von Habermas konstruierte ideale Gesprächssituation in keiner Weise auf einen Prozess übertragen lässt. Denn dort haben alle Beteiligten klar definierte Rollen und Aufgaben. Es geht auch nicht um die Ermittlung der Wahrheit an sich, sondern um die Feststellung, ob Strafwürdigkeit vorliegt oder ob Schadenersatzansprüche oder andere Forderungen gestellt werden können.
Prozesse und Versuchsanordnungen
Die Wahrheit, so Strauch, entsteht im Rahmen jedes einzelnen Prozesses als performativer Akt. Die Wahrheit wird also in den Prozessen erzeugt, sprachlich zum Ausdruck gebracht und ist daher mit diesen Prozessbedingungen unlösbar verbunden. Darin unterscheidet sie sich grundsätzlich vom Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften. Denn dort gilt nur das als wahr, was sich jederzeit und überall unter entsprechenden Versuchsanordnungen reproduzieren lässt. Ein gerichtliches Urteil aber würde in einem anderen Prozess anders ausfallen. Es ist nicht beliebig reproduzierbar. Das heisst aber nicht, dass gerichtliche Urteile beliebig wären. Es gilt das Prinzip der Kohärenz. Und es gibt Revisionsmöglichkeiten.
Für Juristen dürfte dieses Buch unentbehrlich werden, zumal Strauch sich breit auf Fachliteratur und einschlägige Urteile abstützt. Und dank des detaillierten Inhaltsverzeichnisses finden sich auch Laien leicht darin zurecht.
Hans-Joachim Strauch: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Prozesse richterlicher Kognition, 680 Seiten, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2017.