Dass via Facebook, SMS und Twitter Demonstrationen organisiert werden, ist bekannt. Doch jetzt wurde erstmals – dank moderner Kommunikationsmittel – ein diktatorisches Regime gestürzt. Bei der Orangenen Revolution in der Ukraine spielte zwar das Internet schon eine Rolle, aber nie diese entscheidende wie jetzt in Tunesien. Damals, in der Ukraine, waren Facebook und Twitter noch unbedeutend. Anders als jetzt.
„Am Tag waren wir an der Sorbonne, nachts vor dem Computer“. Jamel, ein 23jähriger Tunesier, studiert in Paris Psychologie. Samira, seine tunesische Freundin, ist 25 und Architektur-Studentin. „Tagsüber erhielten wir 40, 50 Twitter-Meldungen“, erzählt er, „aber abends ging es erst los“. Die beiden vergassen zu essen, tranken Kaffee und Pfefferminztee. „Plötzlich waren wir via Netz zusammengeschlossen mit Hunderten, Tausenden von tunesischen Dissidenten“.
Begegnung bei Danton
„Es war wie ein Rausch“, erzählt Samira. „On était comme drogué“. An Schlaf war nicht zu denken. „Eine Nacht haben wir gar nicht geschlafen, sonst höchstens zwei, drei Stunden.“ Der Cyber-Aufstand begann etwa zehn Wochen vor der Flucht des Präsidenten. Tausende Tunesier fanden via Facebook oder andern Foren zusammen. Sie schmiedeten Pläne, legten Strategien fest, riefen zu Demonstrationen auf. „Wir sprachen ihnen von Paris aus Mut zu und bekundeten unsere Solidarität“. Auch Tausende Franzosen hätten sich eingeschaltet. „Das gab den Jungen vor Ort Kraft und Zuversicht“, sagt Jamel.
Die zwei sitzen im Bistrot „Le Danton“ bei der Pariser Metro-Station „Odéon“. Samira juckt auf dem Stuhl hin und her: „On a gagné, on a gagné“. Das tunesische Regime war sich der Internet-Gefahr bewusst. 200 regierungstreue Hacker wurden eingesetzt, um die Dissidenten ausfindig zu machen. Der Regierung gelang es, zahlreiche Anführer festzunehmen. Doch es war zu spät. Als immer mehr Junge mobilisiert wurden, begann die Regierung Schulen und Universitäten zu schliessen. Das war kontraproduktiv, denn jetzt hatten die Jungen erst recht Zeit, vor den Computern zu sitzen.
Mit Handys wurden die brutalen Polizeiübergriffe gefilmt und verschickt. Man sah Tote und Verletzte. „Die Bilder, die wir erhielten, verteilten wir Hunderten von Tunesiern, die wir nicht kannten, die aber plötzlich unsere Freunde waren.“ Das habe den Aufstand immer wieder beflügelt.
Der Schneeball wurde zur Lawine
„In den Tagen vor dem Putsch kriegten wir bis zu 500 Nachrichten“, sagt Samira. „Wir leiteten sie unseren Freunden hier in Paris weiter und verteilten sie unseren Bekannten in Tunesien; der Schneeball wurde zur Lawine“. Sogar Slogans für Demonstrationen wurden via Netz diskutiert und festgelegt. „Plötzlich schrien alle die gleichen Worte“.
Am 13. Januar, einem Donnerstag, war die Hölle los. Am Abend sprach Präsident Zine al-Abidine Ben Ali am Fernsehen. Seine Frau, Leila Trabelsi, „die geliftete Hure“, hatte das Land schon verlassen, laut „Le Monde“ mit 1,5 Tonnen Gold. Ben Ali versuchte ein letztes Mal seine Macht zu retten. Er würde für keine weitere Amtszeit kandidieren, sagte er in seiner Fernsehrede, er würde Preiserhöhungen zurücknehmen, er würde die Pressefreiheit wieder herstellen.
“Wir spritzten uns Tee ins Gesicht“
„Wir schrien und stampften auf den Boden“, erzählt Jemal. „Wir umarmten uns und schmissen Bücher durch das Zimmer. Wir spritzten uns Tee ins Gesicht und lachten und lachten und lachten“. Samira sagt, sie hätte nur geweint und so gezittert, dass sie die Nummern ihrer Freunde nicht mehr ins Handy tippen konnte.
Gefreut haben sie sich nicht, weil Ben Ali die Pressezensur aufhob und nicht mehr kandidieren wollte – gefreut haben sie sich, weil die Rede gezeigt hat, dass er am Ende ist. Jetzt waren die Internet-Dissidenten nicht mehr zu halten. Die Mails, die Facebook- und Twitter-Messages jagten sich. In Teilen Tunesiens brach das Netz zusammen - für einmal nicht, weil es zensuriert wurde, sondern weil es überlastet war.
Jetzt wurde auch bekannt, dass sich Rachid Ammar, der 63jährige Armee-Chef, geweigert hat, auf die Menge schiessen zu lassen. Sofort wurde zu Grossdemonstrationen aufgerufen. Der Damm war gebrochen. Zehntausende Jugendliche strömten auf die Strassen und vor das Innenministerium. Alle forderten den Rücktritt des Präsidenten. „Monsieur le président, verschwinden sie“.
Wer mit den Falschen flirtet…
„Wir waren todmüde, weinten vor Freude vor dem Computer“. Die Nachricht habe sich schnell herumgesprochen. Französische Nachbarn hätten an der Tür geklingelt und sie beglückwünscht. Sie hätten Geschenke gebracht. „Wir umarmten uns alle lange“.
Präsident Ben Ali hatte selbst eine Facebook-Seite. Und er hatte über 240‘000 Facebook-Freunde. Kurz nach seinem Sturz versuchte ein Regierungsbeamter die Seite zu löschen. Zu spät. Die Cyber-Dissidenten haben sie alle kopiert. Jetzt wissen alle, wer Ben Alis „Freunde“ sind. Dumm für sie. „Wer mit den Falschen flirtet“, sagt Samira sanft, „darf sich nicht wundern, wenn er mit ihnen untergeht“.
Nach der überstürzten Flucht des Präsidenten wollen Jemal und Samira weitermachen. „Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass nicht eine neue Diktatur entsteht“, sagen sie weitblickend. Kann die tunesische Cyber-Revolution in andere Länder exportiert werden, nach Algerien, Ägypten, Iran? „Ja, klar“, antwortet Jemal schnell. Samira ist vorsichtiger: „Andere Länder, andere Umstände“.
Die beiden verlassen das Lokal. Bevor sie in die Metro hinuntersteigen, tätschelt Samira den riesigen Sockel, auf dem der Revolutionär Danton steht: „Eh, mon vieux, on a gagné“.