Journal21: Unser Thema ist eigentlich die Wirtschaftspolitik, aber ich möchte zuerst über die wirtschaftliche Lage der Schweiz reden, und die ist nicht so klar. Ist sie nun eigentlich brillant oder eher besorgniserregend?
Rudolf Strahm: Die Schweizer Wirtschaft ist trotz der hohen Löhne international konkurrenzfähig. Man könnte fast sagen: überschiessend konkurrenzfähig. Und zwar darum, weil sich die Wirtschaft seit langem darauf eingestellt hat, mit Innovationen und Spezialitäten, mit Präzisionsarbeit auf dem Weltmarkt Fuss zu fassen. Die Wirtschaft ist aber nicht stark wegen ihrer internationalen Top-Manager, die ja im Durchschnitt nur noch vier Jahre in einem Job bleiben, sondern wegen der starken Berufsbildung, wegen der hoch qualifizierten mittleren Kader, wegen der Präzisionsorientierung der Wirtschaft.
Wir haben aber zwei Probleme. Das eine, der starke Franken, ist jetzt wieder manifest. Das hängt mit dem Finanzplatz zusammen. Wenn diese extreme Währungssituation länger andauert, wird sie grosse Sparten der Exportwirtschaft bestimmt zurückwerfen. Und zweitens haben wir im Inland auch strukturschwache Branchen wie die Landwirtschaft oder das Gastgewerbe und den Tourismus.
Journal21: Ist denn die alte Gegenüberstellung von Werkplatz und Finanzplatz noch aktuell, oder liegen die Probleme heute anders?
Die Redeweise hat sich geändert, aber die Konfliktachse ist eigentlich immer noch aktuell, sie hat sich vielleicht sogar eher verstärkt, aber man nennt es nicht mehr so. Heute erkennen viele Exponenten der Realwirtschaft, auch die Chefs von gewerblichen Betrieben, dass etwas nicht mehr stimmt mit der Ertragslage, wenn man die Finanzwelt und die Realgüterproduktion miteinander vergleicht. Ich habe den Eindruck, dass sich auch im Unternehmerlager das Bewusstsein von dieser Kluft akzentuiert hat. Es besteht eine Kluft zwischen der Garantiekultur der Realwirtschaft, wo mehr Serviceleistungen, wo Produktehaftpflicht und Garantieverpflichtungen gefordert sind, und der Täuschungskultur in den Finanzmärkten, wo komplizierte strukturierte Produkte sowie Risiko- und Haftungsabwälzung das Bild prägen. Und diese Kluft hat zugenommen.
Journal21: Der Finanzplatz hat in letzter Zeit Kapital und vor allem auch Personal vom Werkplatz abgezogen. Ingenieure, Naturwissenschafter arbeiten heute bei den Finanzinstituten. Gibt es da einen Weg zurück?
Die Banken und die anderen Finanzunternehmen haben bei den KMU und der Industrie Ressentiments geschaffen, weil sie gut ausgebildete Leute von dort abgezogen haben, indem sie diese massiv besser bezahlen. Dass dieser Vorgang zurückbuchstabiert werden kann, glaube ich allerdings nicht, weil wir uns einfach in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft bewegen. Allerdings ist auch in der Industrie je länger je mehr Wissen gefragt, weil es auch dort mehr hoch qualifizierte Leute braucht. Eine Lösung für diese Kluft sehe nicht. Das wird sich vermutlich so weiter entwickeln. Allenfalls entschärft sich das ein wenig dadurch, dass im Rahmen der Personenfreizügigkeit mehr qualifizierte Leute aus dem Ausland rekrutiert werden.
Journal21: Sie haben gesagt, dass die Schweizer Wirtschaft mit der Landwirtschaft und der Gastronomie und dem Tourismus zwei Problembereiche mitschleppe. Wie schwerwiegend sind denn diese beiden Bereiche für die Zukunftsaussichten der Schweizer Wirtschaft?
Die Schweiz kann sich diese strukturschwachen Branchen leisten. Aber Probleme gibt es schon. Diese strukturschwachen Gebiete sind ja räumlich von den Wachstumszentren getrennt. Der Gegensatz zwischen Metropolitanräumen und dem Hinterland verschärft sich. In diesem Hinterland, das bevölkerungsmässig doch noch recht stark ist, konzentrieren sich jene Leute, die zu den Globalisierungsverlierern gehören und die sind sehr anfällig für neokonservative und nationalkonservative Motive. Das ist dann das Hinterland der Abschotter und Bremser. Ein Strukturproblem besteht darin, dass diese strukturschwachen Branchen – also vor allem Landwirtschaft und Gastgewerbe – ständig billige und wenig qualifizierte Arbeitskräfte im Ausland rekrutieren und mit der Zuwanderung von neuen bildungsfernen Schichten auch spätere soziale Probleme in den Schulen und bei der Sozialhilfe verursachen. Es ist fast ein Witz der Geschichte, dass ausgerechnet die SVP-nahen Branchen, also Landwirte, Wirte oder Hoteliers am meisten bildungsferne, wenig qualifizierte Migrationsfamilien in die Schweiz holen, die dann in der Folge das Sozialsystem am meisten belasten.
Journal21: Also eine Spaltung in der Wirtschaft, die sich in eine Spaltung in der Politik weiterzieht. Jetzt haben wir von der Wirtschaft gesprochen. Wie gross ist denn der Einfluss der Politik, des nationalen Parlamentes auf die Gestaltung der Wirtschaft?
Ich möchte das nicht nur für die Schweiz anschauen. In der ganzen westlichen Welt rennt die Politik eigentlich den Entwicklungen auf den Finanzmärkten hinterher. Zum Teil sind mit den Krisen auf den Finanzmärkten auch hohe Kosten für die öffentlichen Hände verbunden, wenn sie Schäden verhindern oder aufräumen müssen. Ich denke an die Bankenrettung, ich denke an die Sanierung der europäischen Peripheriestaaten, aber ich denke auch an die Kosten der spekulationsbedingten Frankenaufwertung. Die Politik ist in den letzten Jahren die Gefangene der Finanzmärkte gewesen.
Journal21: Gilt das für die schweizerische Politik in besonderem Mass, weil die Schweiz als eben doch ziemlich kleines, wenn auch wirtschaftlich relative bedeutendes Land den Entwicklungen der Globalisierungen eher wenig an Eigenständigkeit entgegenstellen kann?
Die Schweizer Demokratie verdient eigentlich gute Noten, aber was den Einfluss der Banken- und Finanzwelt auf die Politik angeht, ist die Schweiz eine Art von Oligarchie. Die Schweiz hat sich in Bankenfragen eigentlich immer nur unter Druck des Auslandes bewegt. In Bankenfragen hat die Schweiz ihr Haus eigentlich seit Jahrzehnten immer nur dann in Ordnung gebracht, wenn der Druck des Auslandes zu gross wurde.
Journal21: Gab es in den letzten paar Jahren im Parlament wirklich bedeutende wirtschaftspolitische Entscheide?
Das gab es sicher. Die Rettungsaktionen für die Swissair 2001 und für die Banken 2008 haben einige markante Folgen hinterlassen: Das neoliberale Laissez-faire-Verständnis ist erschüttert worden. Und das hatte doch die achtziger und neunziger Jahre dominiert. Die Vorstellung, dass eine weitgehende Absenz des Staates in der Wirtschaft die richtige Wirtschaftspolitik sei, ist erschüttert worden, und die Idee von Staatsinterventionen ist zwangsläufig wieder erwacht. Die neoliberale Staatsfeindlichkeit ist dabei in die Defensive geraten.
Sodann hat sich auch die Einführung der Ausgaben- und Schuldenbremse stark ausgewirkt, mit Folgen allerdings, die zum Beispiel bei den Sozialversicherungen und in der Sozialhilfe noch nicht genau absehbar sind. Die Eindämmung des Staates wirkt sich da schon aus, wenn auch schleichend.. Die Linke ist dabei in die Defensive geraten und hat eigentlich noch nicht mit neuen Konzepten von präventiver Sozialpolitik, die es zweifellos gäbe, Tritt gefasst.
Und dann sehe ich – im Bundesrat und im Parlament – in jüngerer Zeit Mehrheiten entstehen, die sich nicht einfach der Bankenoligarchie unterordnen. Allerdings ist dabei wiederum der Druck des Auslandes wirksam, wenn man etwa an die Frage der Steuerflucht denkt oder an den schmerzhaften Prozess, in dem die bürgerliche Elite den Mythos Bankgeheimnis aufgeben muss, oder an die Bankenregulierung. Da stelle ich einen schmerzhaften und auch mit Konflikten behafteten Vorgang im bürgerlichen Lager fest.
Journal21: Gerade bei so bedeutenden Geschäften wie bei der Rettung der Swissair oder der UBS war aber das Parlament schlicht nicht dabei und hat anderswo gefällte Entscheide im Nachhinein nur gerade noch abnicken können.
Es zeichnet sich tatsächlich eine Tendenz ab, dass das Parlament in wichtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen eigentlich ausmanövriert und entmachtet wird. Das hat einerseits mit der Dringlichkeit und Komplexität vieler wichtiger Geschäfte zu tun. Immer mehr spuren Chefbeamte, die Nationalbank, das Seco, die Finanzmarktaufsicht und andere solche Entscheide vor, und das Parlament kann nur noch hinterher rennen und diese Entscheide absegnen.
Andererseits haben die internationalen Entwicklungen das Parlament auch teilweise entmachtet. Internationale Sachzwänge und globale Spielregeln sind plötzlich wichtiger geworden als die politische Entscheidungsfreiheit der Parlamentarier. Die Globalisierung erzwingt globale Spielregeln! Dieser schmerzhafte Prozess betrifft über die bürgerliche Elite hinaus das ganze Parlament. Und damit Linke und Rechte.
Journal21: Ist im Parlament, insofern es zu wirtschaftspolitischen Fragen überhaupt etwas zu sagen hat, der nötige Sachverstand vorhanden?
Ich will mich als ehemaliger Akteur nicht aufs hohe Pferd setzen und Noten verteilen. Aber ich sehe weit und breit kein überzeugendes perspektivisches Wirtschaftskonzept – links nicht und rechts nicht.
Die Linke hat sich in tagespolitischen Scharmützeln und Defensivstrategien verheddert. Sie hat sich gegen Staatsabbau gestellt und mit populistischem Aktivismustät die Boni-Frage hochgefahren. Aber die Linke hat zu Wettbewerb, zu Konsum, zu Desindustrialisierung und Strukturwandel, zur beruflichen Bildung eigentliche keine Konzeption – und zeigt darin keine Präsenz..
Die FDP ist durch Lobby-Einflüsse total paralysiert und gespalten in die wenigen KMU-Vertreter auf der einen Seite und die Lobbyisten der Banken und Versicherungen und der Pharmaindustrie auf der anderen Seite. Sie ist in einem verzweifelten, historischen Rückbildungsprozess.
Die SVP ist auf ihre Weise auch paralysiert durch den internen Widerspruch zwischen Anti-Etatismus der Parteiführung und einer Subventions-und Hohle-Hand-Politik, wie sie von ihrer Klientschaft in der Landwirtschaft, im Tourismus, bei den Rentnern usw. verlangt wird.
Kurz: Es gibt nur mit sich selbst befasste polarisierte Lager; und daraus ist eigentlich keine gemeinsame, mehrheitsfähige wirtschaftspolitische Perspektive möglich. Das zeigt sich dann etwa in der Konsensunfähigkeit in der Europapolitik, in der Industriepolitik, in der Wirtschaftspolitik in einem engeren Sinn, in der Bildungs- und Sozialpolitik. Insgesamt ist die wirtschaftspolitische Kompetenz im Parlament sehr schwach und vor allem zersplittert und polarisiert.
Es kommt ein Faktor hinzu. In der Schweiz haben ja in den früheren Jahrzehnten die Wirtschaftsverbände die wirtschaftspolitischen Entscheide immer sehr stark vorgespurt. Aber heute ist etwa die economiesuisse auch paralysiert und nur noch in ganz wenigen Fragen überhaupt präsent. Intern einig ist sich die economiesuisse nur noch in der Forderung nach Steuersenkungen. Aber auch die Gewerkschaften sind schwach geworden.
Das stabilisierende Element, das früher von diesem Korporativsystem auf den Staat ausgegangen ist, ist verschwunden, und das zeigt sich im Parlament darin, dass die Fähigkeit, Kompromisse zu finden, gestorben oder zumindest ganz stark eingeengt ist.
Journal21: Früher hat man einzelnen Parteien in besonderen Sachbereichen besondere politische Kompetenz zu gesprochen, und diese Parteien wurden dadurch für bestimmte Wählergruppen attraktiv. Kann heute eine Partei mit wirtschaftspolitischer Kompetenz Wählerinnen und Wähler gewinnen?
Ich bin nicht Politologe und kann darum nur über meine Eindrücke reden: Mir scheint, dass sich die Bindungen zu Parteien gelockert haben. In den Nationalratswahlen von 1975 oder auch wieder von 1995 war die Arbeitslosigkeit ein prägendes Moment für die Linke. Heute scheint das zu verschwinden. Diese Verhaltensänderung mag mit der Globalisierung zu tun haben, vielleicht auch mit der Personenfreizügigkeit.
Man darf den politischen Einfluss der Einwanderung auf das heutige Wirtschaftsverständnis der Arbeitnehmenden nicht unterschätzen: In den siebziger Jahren hatte die Einwanderung zu einer Unterschichtung der Arbeitnehmenden geführt und so das Wahlverhalten der traditionellen Arbeiterschaft geprägt, die sich den nationalistischen Parteien zuwandte. Heute ist eher die Mittelschicht von der Einwanderung qualifizierter Ausländer betroffen, und das dürfte in diesen Kreisen zu einem neuen Wahlverhalten führen. Auch Mittelschichten stellen heute die Personenfreizügigkeit in Frage, weil sie sich davon direkt betroffen fühlen. Mittelschichten werden teilweise auch zur SVP neigen, jedenfalls dürfte die Wählerschaft heute stärker gespalten sein.
Journal21: Was hätte das neu gewählte Parlament im Bereich der Wirtschaftspolitik dringend an die Hand zu nehmen?
Ich möchte drei Dinge nennen. Erstens ist in der nächsten Legislatur unser Verhältnis zu Europa zu klären. Dazu gehört die Forderung der EU nach einem institutionellen Rahmen für die vielen Verträge, also nach der automatischen Übernahme des EU-Rechts. Dazu gehört aber auch die Überprüfung und eventuell Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit sowie der flankierenden Massnahmen zu dieser Personenfreizügigkeit im Inland.
Zweitens ist der Umgang mit der Globalisierung eine ständige Herausforderung. Wie ich bereits erwähnt habe, erzwingt die Globalisierung die Übernahme globaler Spielregeln, zum Beispiel für Themen wie die Steuerflucht, die Kriminalitätsbekämpfung, die Regulierung von Banken und Finanzmärkten, aber etwa auch die Energie- und Umweltpolitik.
Ein dritter Themenbereich, der die Politik beschäftigen wird, aber vielleicht auch eher auf die lange Bank geschoben werden wird, ist die Frage der Sicherung der Sozialwerke, des Sozialstaates und der Integration der Ausländer. Da liegt ja ein zentrales Problem, dass die früh eingewanderten, aber vielfach wenig qualifizierten Ausländer und deren Nachkommen nicht genügend integriert sind.
Aber neben diesen Aufgaben, die absehbar sind, wird es wieder wie in der letzten Legislatur unvorhersehbare Überraschungen geben. Gerade in den letzten vier Jahren waren ja die grossen Themen, die die Politik bewegt und geschüttelt haben, nicht vorherzusehen. Die internationalen Finanzmärkte werden uns weiter überraschen und die Politik auf Trab halten.
Journal21: Der Ausgang der Wahlen im Oktober ist ja im Einzelnen kaum genau vorhersehbar. Aber man kann mit einiger Sicherheit annehmen, dass die politische Mitte in diesen Wahlen noch mehr zersplittert werden wird. Wird das neue Parlament die Aufgaben, die Sie genannt haben, tatsächlich anpacken oder eher nicht?
Ich erwarte nicht viel. Praktisch alle Parteien kämpfen in erster Linie darum, ihre Position zu halten. Bei der FDP, der CVP, der BDP, aber auch bei der SP ist es fast ein Kampf ums Überleben, vor allem auch, was ihre Stellung im Bundesrat angeht. Bei der SVP geht es nicht ums Überleben, aber sie führt einen umso verbissseneren Kampf um die Organisation der nationalkonservativen Wählerschaft. Diesen Kampf führt sie mit dem Mittel der Polarisierung. Aber sie muss gleichzeitig einen Kampf um die Mitte-Wähler führen, die mit mehr Polarisierung nicht viel anfangen können und die eigentlich ein stabiles System wünschten. Dieser ständige Abnützungskrieg macht diese Partei regierungsunfähig. Die neueren Parteien wie die Grünen und die Grünliberalen sind einfach in Staatsleitungsfunktionen zu wenig konsolidiert. Insgesamt erwarte ich darum nicht mehr Stabilität und nicht mehr Entscheidfähigkeit vom neu gewählten Parlament.
Meine Erwartungen, meine Hoffnungen gehen eher dahin, dass wir einen Bundesrat haben, der integrierend wirken kann. Einen Bundesrat, der gegen die polarisierenden Tendenzen seine Regierungstätigkeit durchziehen kann. Und zweitens hoffe ich, dass die wichtigen Chefbeamten oder nationale Institutionen wie die Nationalbank in den wichtigen Fragen eine Art Führung für das Gemeinwohl an den Tag legen.
Journal21: Sie vermuten also, dass sich das Parlament still und leise aus seiner Tätigkeit als wichtiger politischer Akteur verabschiedet?
Das ist zu befürchten, aber es ist ein schleichender Vorgang. Das Parlament wird aus zwei Gründen schwächer: Das eine ist die interne Ideologisierung und Polarisierung, was das Finden von Kompromissen und mehrheitsfähigen Lösungen im Parlament selber verhindert. Und dann wirken globale Sachzwänge und die damit verbundenen neuen globalen Spielregeln stärker in die schweizerische Politik hinein, begrenzen hier die Möglichkeit des freien Entscheidens und setzen das ohnehin wenig flexible Milizparlament in Zugzwang. Aber das ist natürlich nicht nur in der Schweiz so, sondern in ganz Europa.