Zumindest wissen die meisten Menschen ganz genau, dass „wir“ etwas ganz anderes sind als „die anderen“. Wer es nicht glaubt und nachfragt, wird zumindest scheel angesehen.
Aber was macht uns denn zum „wir“? Vor einer solchen Frage kann man nur warnen. Wer hier anfängt, lasse alle Hoffnung fahren, je an ein Ende zu kommen. Denn jede Grenze, jede Abgrenzung von „den anderen“ erscheint bei näherer Betrachtung als willkürlich. Ist das „wir“ also eine blosse Fiktion?
Das mag sein, aber warum ist dann das Wort „wir“ so stark? Wenn wir „wir“ sagen, wecken wir Emotionen, entsteht das unabweisbare Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sprache bildet eben nicht nur Wirklichkeit ab, sie schafft sie auch. Wissenschaftler sprechen vom „performativen“ Charakter mancher Sprechakte. Mit dem Wort „wir“ schaffen wir die Gemeinschaft, die mit diesem Wort bezeichnet wird.
Das ist schön und gut, aber hapert dieser wunderbare Sprechakt nicht daran, dass es das „wir“ als beschreibbare Wirklichkeit nur um den Preis willkürlicher Abgrenzungen gibt? Das ist ganz sicher so, und um das Mass voll zu machen, gibt es noch ein anderes Wort, das wir ständig gebrauchen und das bei näherer Betrachtung ebenso zerbröselt: „ich“. Wir sagen „ich“ und glauben zu wissen, wen und was wir damit meinen. Aber wo finden wir es? Diejenigen, die es am besten wissen müssten, wissen es am wenigsten: die Hirnforscher. Es gibt im Gehirn ein Sprachzentrum, Zentren für die Motorik, die Steuerung der Verdauung, das Sehen, es gibt Gedächtnis, es gibt alles Mögliche, nur kein „Ich-Zentrum“.
Wenn aber jemand sagen würde, er wisse nicht, wen er meine, wenn er „ich“ sage, dann stimmt etwas nicht in seinem Oberstübchen. Jedenfalls wird er so betrachtet. So könnte man folgern: Wir wissen zwar nicht, was das „Wir“ genau ist, und schon gar nicht wissen wir, wo das „Ich“ sitzt, aber wenn wir nicht mehr „wir“ und „ich“ sagen würden, wären wir buchstäblich Fremde in dieser Welt, Elementarteilchen ohne Steuerung. Es ist schon erstaunlich, wie die Sprache Wirklichkeiten erschafft, die genauerer Betrachtung nicht standhalten. Hugo von Hofmannsthal schrieb in diesem Zusammenhang von Worten, die „wie modrige Pilze zerfallen.“ Aber anders als modrige Pilze sind "ich" und "wir" unverzichtbar.