Er werde nicht zur Urne gehen, die Politiker machten ja doch, was sie wollten. Das sagte dieser Tage ein von Radio DRS befragter Schweizer Bürger in einer Reportage über die Stimmung im Volke im Hinblick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen. Offenbar ist diese Einstellung nicht untypisch, denn nach verschiedenen Prognosen wird die Stimmbeteiligung bei der Auszählung am kommenden Sonntag wieder unter 50 Prozent. Zum letzten Mal lag sie 1975 über der 50-Prozent-Grenze.
Drei Motive
Was sind die wesentlichen Gründen, für die insgesamt ziemlich blamable Stimmbeteiligung in der Schweiz? (Blamabel etwa im Vergleich zu Deutschland, wo bei Bundestagswahlen regelmässig zwischen 70 und 80 Prozent der Wähler sich die Mühe nehmen, ihre Stimme abzugeben. In den USA liegt die Beteiligung bei Präsidentenwahl meist auch unter 50 Prozent.)
Grob gesagt sind es wohl hauptsächlich drei Motive, die einen Bürger in der Schweiz veranlassen, von seinem Stimmrecht keinen Gebrauch zu machen.
1.Faulheit 2. Resignation oder Frust 3. Zufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen.
Sind das überzeugende Gründe? Ich denke nein, obwohl in einer Demokratie auch das Recht respektiert werden soll, vom Stimmrecht keinen Gebrauch zu machen. Wer dies tut, kann dann allerdings auch nicht mehr glaubwürdig über Entwicklungen und Zustände jammern, die entscheidend durch politische Weichenstellungen im Parlament oder – in der Schweiz besonders häufig – durch Volksentscheide bei Sachfragen beeinflusst werden.
Resignation – „destruktives Handeln eigener Art“
Um ein praktisches Beispiel zu nennen: das leidige und populistisch inspirierte Minarettsverbot wäre nicht in die Bundesverfassung gekommen, wenn mehr Bürger mit Zweifeln am Sinn eines solchen pauschalen Verbots ihre Apathie überwunden und die geringe Energie aufgebracht hätten, den entsprechenden Stimmzettel auszufüllen.
Sind Resignation und Frust überzeugende Gründe zur Stimmabstinenz? Natürlich gibt es unzählige Entwicklungen und Erscheinungen in unserem Land, über die man sich – je nach persönlicher Perspektive – ärgern und empören kann. Aber soll man deswegen resigniert die Schulter zucken und den Stimmzettel in den Papierkorb befördern?
„Resignation ist nicht einfach der Verzicht auf Handeln, sondern ein destruktives Handeln eigener Art“, sagte der Schweizer Germanist Peter von Matt am vergangenen Sonntag in der Frankfurter Paulskirche in seiner Laudatio auf den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal, der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde.
Demokratie ist kein Wunschkonzert
Wer aber einwendet, eine einzelne Stimme habe ja doch kein Gewicht und könne deshalb den Lauf der Dinge nicht beeinflussen, hat offenbar keine Ahnung vom Wesen demokratischer Entscheidungen, die nun einmal nach dem Mehrheitsprinzip zustande kommen. Demokratie ist kein Wunschkonzert, wo nur gespielt wird, was dem Zuhörer passt. Und wer grundsätzlich am Funktionieren der demokratischen Mechanismen in der Schweiz zweifelt, der sollte ehrlicherweise auch die Frage beantworten, in welchem andern Land es denn damit insgesamt besser und glaubwürdiger bestellt ist.
Bleibt die Stimmabstinenz derjenigen, die mit den Verhältnissen grosso modo zufrieden sind und es aus diesem Grund nicht für nötig halten, sich mit den Stimm- oder Wahlunterlagen herumzuschlagen. Das ist zwar, wie erwähnt, ein gutes demokratisches Recht – aber kaum eine vorausschauende, nachhaltige Handlungsweise. Denn wer mit dem politischen Status quo leidlich zufrieden ist, der müsste mit seinem Stimmzettel darauf Einfluss nehmen, dass dieser Zustand auch nach der nächsten Parlamentswahl bestehen bleibt.
Die Mitverantwortung des Nichtwählers
Wer sich nicht dazu aufraffen will, muss sich jedenfalls selbst an der Nase nehmen, wenn nach der Wahl die Machtverhältnisse im Berner Bundeshaus sich über Nacht radikal in eine Richtung verschoben haben sollten, die auch der Nichtwähler als höchst ungemütlich empfindet.
Noch besteht die Möglichkeit, die Stimmbeteiligung am Sonntag über die 50-Prozent-Grenze zu heben. Wer dazu beiträgt, setzt gleichzeitig ein Zeichen gegen Faulheit, Resignation und unreflektierte Selbstzufriedenheit in der inzwischen verunsicherten Wohlstandgesellschaft Schweiz.