Am traditionellen Albisgüetli-Treffen der SVP in Zürich hat Christoph Blocher am 15. Januar in seiner langen Rede – „es gilt das schriftliche und das mündliche Wort“ – viele aufsehenerregende Sätze gesagt und geschrieben. Der grosse Alte behauptete: „Bundesbern hat den Weg in die Diktatur angetreten. Sie mögen erschrecken, meine Damen und Herren, die Lage ist ernst. (…) Wir stehen vor einem stillen Staatsstreich.“ Der erbitterte Kampf gegen die Durchsetzungsinitiative von Politikern, Behörden, Verwaltung und Richtern sei dafür ein deutliches Zeichen. Wörtlich fuhr der SVP-Tribun fort: „Die andern Parteien wollen die kriminellen Ausländer nicht ausschaffen, obwohl dies Volk und Kantone vor über fünf Jahren unmissverständlich beschlossen haben.“
Entgegenkommen des Parlaments ignoriert
Diese scharfen Worte stammen aus der Feder eines alt Bundesrats, doch das bedeutet nicht, dass sie auch glaubhaft sind – im Gegenteil. Das Parlament hat die Ausschaffungsinitiative sehr ernstgenommen, und es ist sehr weit gegangen. Es hat beschlossen, dass die Ausschaffung in der Regel bei den aufgezählten Delikten automatisch erfolgt. Das Gericht darf nur in Ausnahmefällen auf eine Ausweisung verzichten, dann nämlich, wenn diese einen schweren persönlichen Härtefall für die betroffene Person bedeuten würde.
Das weitgehende Entgegenkommen des Parlaments genügt der SVP jedoch nicht. Noch bevor die Eidgenössischen Räte die Beratungen beendet hatten, lancierte die SVP eine weitere Volksinitiative, jene zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer. Dieser ellenlange Artikel – er umfasst über drei A4-Seiten – lässt dem Parlament und den Richtern keinen auch noch so geringen Ermessensspielraum.
Dieser neue Verfassungsartikel bedeutet deshalb eine schwere Verletzung der geltenden Bundesverfassung aus dem Jahr 1999. In Artikel 5, unter dem Zwischentitel „Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns“, heisst es in Absatz 2 nämlich: „Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.“ Blocher wirft Bundesrat, Parlament und Richtern vor, die Verfassung nicht zu respektieren; dabei ist er es, der sie missachtet.
Volksrechte über alles
Der Politiker aus Herrliberg fragte im Albisgüetli: „Wer entscheidet in unserem Gemeinwesen? Sind es Politiker, Professoren, Richter in Lausanne oder Strassburg, sind es irgendwelche internationale Kongresse?“ Blochers Antwort, die seit Jahrhunderten gelte: „Es ist das Volk, die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen – der Souverän – als oberste Instanz. Er setzt das Recht.“
Die Volksentscheide stehen für den SVP-Politiker über allem, auch wenn sie in Widerspruch zu Grundsätzen stehen, die in unserer Verfassung verankert sind. Er lässt die Überzeugung fast aller Verfassungsrechtler nicht gelten, wonach die Souveränität des Volkes im Rahmen der Kompetenzen von Parlament, Regierung und Justiz zu sehen ist: die verschiedenen Instanzen sollen von einander unabhängig und im Gleichgewicht sein.
Wenn er behauptet: „Bundesbern hat den Weg in die Diktatur angetreten“, verleumdet Blocher die Bundesräte, die Parlamentarier, die Verwaltung, aber auch die Richter. Diese masslose Attacke erntete starken Beifall von seinen Anhängern; sie ist jedoch nicht gerechtfertigt.
Blocher hat schon mehrmals gesagt, er habe einen Auftrag, er wolle die Schweiz retten. Wer eine solche Mission zu haben glaubt, ist nicht bereit, auf Einwände zu hören, ob sie nun von einfachen Bürgern, Bundesräten, Parlamentariern oder Richtern vorgebracht werden. Hingegen schürt Blocher Ängste vor Verrat und Verschwörungen – und so entstehen Ansprachen wie jene im Albisgüeli vom 15. Januar.