Syrien hat eine kleine kurdische Minderheit von vielleicht zwei Millionen Kurden an seinen nordöstlichen Grenzen. Auf der anderen Seite der türkisch-syrischen Grenze leben etwa 20 Millionen "türkische" Kurden.
Weiter östlich in den kurdischen Bergen des Iraks gibt es gute 5 Millionen "irakische" Kurden, und noch weiter östlich, jenseits der iranisch-irakischen Grenze, leben weitere 5 Millionen "iranische" Kurden unter starkem Druck der iranischen Revolutionswächter.
Das autonome Kurdistan des Irak
Den irakischen Kurden ist es anlässlich des amerikanischen Krieges im Irak gelungen, einen weitgehend eigenen "autonomen" kurdischen Teilstaat zu gründen mit seinen eigenen Streitkräften, den "Peshmerga" des Iraks. Alle anderen Kurden dürften in ihrer grossen Mehrheit auf diesen irakischen Teilstaat blicken und sich etwas Vergleichbares für sich selbst wünschen: jene, die türkische, die syrische, und die iranische Staatsangehörige sind.
Den syrischen Kurden ist es gelungen, im Zeichen der Erhebung grosser Teile der syrischen Bevölkerung gegen das Asad Regime einen prekären de facto Staat in ihren Gebieten zu gründen. Sie haben sich vom syrischen Staat losgelöst und auch gebrochen mit der syrischen Exilvertretung, dem SNC (Syrischen Nationalen Rat), der meistens in Istanbul tagt und für seine inneren Gegensätze und Widersprüche bekannt ist.
Ausgangssperre
Sie haben die kurdische Fahne über ihren Munizipalitäten aufgezogen und die Bewaffneten beider Seiten, der Aufständischen und der Regierung, aufgefordert, ihre Region zu verlassen. Diese sichern sie nun durch ihre eigenen Kämpfer ab. Einige der syrischen regulären Truppen sollen dem Vernehmen nach noch verblieben sein, jedoch ihre Kasernen nicht verlassen.
Die Aussenkräfte haben sich gefügt, weil beide in einem tödlichen Ringen gegeneinander stehen, in dem sie keinerlei Kräfte für eine Konfrontation mit den Kurden mehr übrig haben.
PYD - eine Tarnung der PKK ?
Die treibende Kraft, die ein "Westkurdistan" anstrebt, ist die PYD, übersetzt:Demokratische Einheitspartei. Die türkischen und auch Beobachter ausserhalb der Türkei sind der Ansicht, dass diese PYD ganz oder weitgehend aus Mitgliedern und Sympathisanten der PKK bestehe. Die PKK ist die kämpferische und vor Terror Methoden nicht zurückschreckende Partei der türkischen Kurden, die seit 1984 in der Türkei in einem manchmal blutig geführten, dann wieder mehr politisch akzentuierten Krieg und Kampf um die Autonomie der türkischen Kurden steht.
Ihr grosser und bitterer Feind ist die türkische Armee, die in Zeiten der Höhepunkte des dortigen Kurdenkrieges bis zu 200 000 Mann in türkisch Kurdistan gegen die aufständischen Kurden der PKK einsetzte. Ihre Aktionen in den 80er und frühen 90er Jahren haben zur Zerstörung von Hunderten von kurdischen Dörfern und Meilern geführt und zur erzwungenen Auswanderung bedeutender Teile der kurdischen Bevölkerung in die turkophonen Teile der Türkei, namentlich in die Grossstädte Istanbul und Ankara.
Unversöhnte Reste der PKK
Reste der PKK Kämpfer zogen sich in die Kandil Berge zurück, die im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Irak liegen. Diese Kämpfer, wahrscheinlich weniger als 10 000 Mann, dringen bis heute immer wieder über die türkische Grenze ein und verüben Überfälle auf Patrouillen der türkischen Armee, oder legen Bomben und Minen, um türkische Soldaten und Grenzwächter zu töten.
Die türkische Armee sendet ihrerseits Aufklärungsdrohnen und Kampfflugzeuge über die Grenze in den irakisch-kurdischen Raum und versucht, die kurdischen PKK Kämpfer zu treffen. Es kommt natürlich vor, dass auch zivile irakische Kurden Opfer solcher Luftangriffe werden.
"Täter mit Blut an den Händen
Es gab Perioden, in denen die Erdogan Regierung versuchte, mit den Kurden Frieden zu schliessen. Doch eine Amnestie, die auch die Kämpfer der PKK mit umfasst hätte, kam nie zustande, wahrscheinlich in erster Linie, weil die Armee sich weigerte, in diese Amnestie auch "Täter mit Blut an den Händen" mitaufzunehmen. Deshalb dauern die Überfälle der PKK an, und die türkische Armee erleidet immer wieder Verluste an Soldaten.
Die Verluste, welche sie ihrerseits den PKK Leuten zufügt, sind wahrscheinlich grösser. Doch über die Zahl der Opfer ihrer Bombardierungen und darüber, wer diese Opfer sind, PKK Guerillas oder irakische Zivilisten, weiss niemand wirklich Bescheid. Es gibt darüber nur unkontrollierbare und propagandistisch gefärbte Aussagen der militärischen Sprecher der beiden Seiten.
Der Grenz- und Kleinkrieg lebt periodisch auf und legt sich dann wieder. Ganz zu Ende gekommen ist er nicht seit 1984 ! Er schafft grosse Bitterkeit auf beiden Seiten.
Kurdische Kontakte mit Ankara
Die Regierung von irakisch Kurdisten und Präsident Masud Barzani halten ihrerseits diplomatische Kontakte mit Ankara aufrecht. Sie versichern Ankara immer wieder, dass sie nichts täten, um den PKK Kämpfern in den Bergen an ihrer Grenze zu helfen, ja dass sie bereit seien, ihre Aktionen zu behindern und einzuschränken. Doch sie protestieren auch immer wieder, wenn die türkischen Luftangriffe zu Verlusten unter ihrer eigenen Bergbevölkerung in den Grenzbergen führen. Die beiden Seiten pflegen verschiedene Ansichten über die Zahlen und die Identität der Opfer des Kleinkriegs anzuführen.
Ankara zieht es vor, mit den irakischen Kurden Kontakte zu pflegen, und so zu vermeiden, dass diese offiziell und nachdrücklich für die PKK Partei nehmen und ihr die Ressourcen des irakischen Kurdistans voll zur Verfügung stellen.
Wandel der Kurdenpolitik Erdogans
Auf der Ebene der Bevölkerung, im Gegensatz zu jener der Regierung, hat man anzunehmen, dass die irakischen Kurden mit ihren türkisch kurdischen Brüdern und ihren politischen Zielen sympathisieren, obwohl - aber auch weil - die Reaktionen der türkischen Armee gegen die PKK immer wieder sie selbst in Mitleidenschaft ziehen.
Die Kurdenpolitik Erdogans gegenüber den türkischen Kurden, die einen gewichtigen Teil der gesamten türkischen Bevölkerung ausmachen, hat im Laufe der Zeit eine Änderung durchgemacht. Sie kannte zuerst eine versöhnliche Periode, in welcher Erdogan Verständnis für die Anliegen der Kurden zeigte und ihnen einige Konzessionen machte, etwa hinsichtlich der Sprache und der Duldung kurdischer politischer Parteien.
Doch dies wich später einer härteren Haltung, die dazu geführt hat, dass heute grosse Zahlen von kurdischen Politikern, unter ihnen auch gewählte Bürgermeister und Parlamentarier, in den Gefängnissen sitzen. Sie werden angeklagt, heimlich mit der PKK zu sympathisieren und als politische Front für die "illegale und terroristische" Kampfgruppe zu dienen.
Freunde der PKK unter den türkischen Kurden
Die PKK ist ihrerseits bei vielen Kurden populär, und droht es immer mehr zu werden, je schärfer die türkische Regierung mit ihrer kurdischen Bevölkerung umspringt. Aus diesem Grunde weigern sich viele Politiker der offiziell geduldeten kurdischen Partei, die sich diplomatisch "Demokratische Friedenspartei" nennt (türkisch abgekürzt DBP), die PKK zu verurteilen. Was wiederum die Anklagen der türkischen Gerichte fördert, wenn diese vermuten, die DBP und die PKK steckten unter einer Decke.
Die härtere Haltung Erdogans und seiner Regierung gegenüber den Kurden kam zustande, als der Traum einer Mitgliedschaft der Türkei in der EG sich als unrealistisch erwies. Eine politische Lösung der kurdischen Frage gehörte zu den Grundforderungen der EG. Doch wahrscheinlich war das Verhältnis Erdogans zur türkischen Armee noch ausschlaggebender. Solange ein offenes politisches Ringen auf Gedeih und Verderb zwischen der Armee und Erdogan bestand, waren die Kurden - bittere Feinde der Armee - eine annehmbare Stütze für Erdogan. Ihre Partei die DBP ist immerhin die drittgrösste Partei der Türkei. Doch als es Erdogan gelang, sich gegen die Armee durchzusetzen und diese weitgehend seiner Macht unterzuordnen, wurden die Kurden für ihn eine politische Belastung.
Die Armee im Zentrum der Kurdenpolitik der Türkei
Allzu gute Beziehungen mit ihnen bedeuteten, dass die türkische nationalistische Opposition sowohl bei den Offizieren wie auch in allen Erdogan kritischen Kreisen ein Reizthema fände, dass sie gegen die Partei Erdogans beständig ausspielen könnte. Die Unversöhnbarkeit des harten Kerns der PKK- Kämpfer trug ihrerseits auch dazu bei, dass Erdogan auf eine schärfere Kurdenpolitik einschwenkte.
In diese höchst labile und immer gespannte Lage kommt nun "Westkurdistan" als ein neuer Faktor. Manche Beobachter in der Türkei glauben und schreiben, dass das Asad Regime die syrischen Kurden absichtlich habe agieren lassen, um sich an Ankara dafür zu rächen, dass es die syrischen Rebellen unterstütze und die syrischen Flüchtlinge aufnehme. Das mag zutreffen oder auch nicht. Jedenfalls zeigt diese Anklage, wie wichtig die Frage eines entstehenden "Westkurdistans" in der Türkei genommen wird.
Ein neues Gewicht in dem labilen Geschiebe
Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien ist über 500 Km lang. Sie führt durch eine grosse steppenartige Hochebene, die auf beiden Seiten teilweise von Kurden, teilweise von arabisch sprechenden Bevölkerungen und auf der türkischen Seite auch von turkophonen Türken bewohnt wird. Die Grenzziehung wurde ihrerzeit unter Atatürk auf weite Strecken durch den Bahndamm der Eisenbahn bestimmt, der diese Ebene von Aleppo nach Mosul durchzieht. Die Schienen verlaufen auf der syrischen Seite der Grenze.
Wenn nun wirklich ein Westkurdistan auf der syrischen Seite der Grenze entsteht und wenn die dort führende Partei, die "Demokratische Einheitspartei" dort das Regiment führen sollte, wie Ankara animmt, eine blosse Verkleidung der PKK, werden die Infiltrationsmöglichkeiten der kurdischen Kämpfer nach der Türkei gewaltig gesteigert. Sie sind heute beschränkt auf den relativ kurzen und sehr gebirgigen, unwegsamen Grenzbereich zwischen der Türkei und dem Irak, im wesentlichen die Kandil Berge. Sie würden dann ausgedehnt auf die vielen hundert Kilometer der leicht überquerbaren syrisch-türkischen Grenze.
Die Türkei warnt mit Nachdruck
Aus diesen Gründen hat Erdogan in der vergangenen Woche mehrmals öffentlich scharfe Warnungen ausgesprochen, deren Inhalt war: die Türkei würde keine Übergriffe von kurdischer Seite über ihre Grenze hinweg dulden, und die Türkei sei auch strikte gegen die Bildung eines kurdischen Teilstaates in Syrien. Der Türkische Aussenminister ist nach Erbil geflogen, um dort mit den irakisch-kurdischen Autoritäten und mit Barzani persönlich zu verhandeln.
Die Beunruhigung Ankaras über den neuen "kurdischen Staat", ja den kurdischen "Mega Staat", wie ihn einige türkische Kommentatoren nennen, wird noch gesteigert durch die Haltung Präsident Barzanis und seiner Anhänger in irakisch Kurdistan. Barzani hat eine Art von Patenschaft für Westkurdistan übernommen. Zwischen den irakisch kurdischen Behörden und der KYD wurde in Erbil ein Vertrag ausgehandelt, nach dem die Peshmerga des Iraks kurdische Soldaten aus Westkurdistan ausbilden sollen. Die erste Phase der Ausbildung von etwa 2000 Mann soll bereits stattfinden.
Das labile Gleichgewicht im Irak
Damit schaltet sich Westkurdistan in ein weiteres Wespennest ein. Die irakischen Kurden mit ihren beiden Hauptparteien, der KDP und der PUK (Demokratische Kurdische Partei und Kurdische Unionspartei), sind zwar Bestandteil der regierenden Koalition Nuri Malikis in Bagdad. Doch ihre Beziehungen mit Maliki sind gespannt. Es gibt einen Dauerstreit über Erdölfragen, über die gemischte Region von Kirkuk, über den genauen Verlauf der kurdisch-arabischen Grenzen und allgemein über die Frage von Autonomie und die rechtliche Festlegung der gegenseitigen Grenzen und Kompetenzen.
Im syrischen Bürgerkieg steht Maliki und seine politische Partei, die schiitische Da'wa, auf Seiten der Asad Regierung und und Irans. Doch zwischen den irakischen Sunniten arabischer Sprache und den die Regierung beherrschenden arabischen Schiiten bestehen weiterhin grosse Spannungen, die sich immer wieder in gegenseitigen Anschuldigungen und in blutigen Bombenanschlägen verheerend entladen.
Irakische Radikale auf Seiten der syrischen Rebellion
Es besteht Grund zur Annahme, dass sunnitische Extremisten aus dem nördlichen Irak in Syrien auf Seiten der Aufständischen mitkämpfen. Man kann vermuten, dass sie bei den Selbstmord Bombenanschlägen in Syrien eine wichtige Rolle spielen. Eine Begünstigung der Entstehung "Westkurdistans" durch Barzani und seine irakischen Kurden, gewissermassen ein Schritt hin zur Bildung eines Grosskurdistans, oder einer kurdischen Einheit, wie sie im Namen der PYD vorgezeichnet ist, droht auch im Irak zu einer Verschiebung der überaus labilen inneren Gleichgewichte zu führen.