Eine charmante Idee. In der europäischen Kulturzeitschrift Lettre International (Ausgabe 130 vom Sommer 2020) schlüpft der deutsche Autor Rolf Schönlau in die Rolle des gerade grassierenden Coronavirus Sars-CoV-2 und lässt das Virus erzählen. Es wendet sich an die Menschen und sagt zum Beispiel:
„Wenn ihr wüsstet, wer sich in unserer Familie alles Hoffnungen macht, demnächst die Artengrenze zu überschreiten und als SARS-CoV-3 zu reüssieren? Alle haben sich irgendwelche Wildtiere gekapert, die von euch gejagt werden – zum Essen, zum Herzeigen oder zum Heilen. Vor allem als Potenzmittel, Verjüngungskur und Gehirn-Doping schätzt ihr möglichst ausgefallene tierische Drogen. Da schnappen sich manche ein Tier, das von Raubtieren erbeutet wird, die vielleicht bald als neuestes oder uraltes Wundermittel gelten.“
„Dass ich nicht lache“
Das Virus freut sich – wenn man ihm denn solche Emotionen einmal zuschreiben will. Und daher ist die Gefahr real. Je mehr sich die stets vermehrende Menschheit, sagen Wissenschafter, in die noch unberührte Natur drängten – etwa in den brasilianischen Regenwald –, desto mehr engten sie den Lebensraum der Wildtiere ein, desto mehr kämen Menschen in Kontakt mit virustragenden Tieren, desto mehr geriete die Menschheit in Gefahr, nach der gegenwärtig grassierenden SARS-CoV-2-Erkrankung in nicht allzu ferner Zeit erneut in die Falle eines SARS-Virus zu laufen und dann gezwungen zu sein, nach einem Impfstoff gegen ein Virus SARS-CoV-3 zu forschen. Wie spricht doch das Virus?
„Ihr kennt mich ... Ich wäre kaum ein richtiges Lebewesen, sagen eure Virologen, höchstens dem Leben nahestehend. Dass ich nicht lache ! Zugegeben, ich habe keinen eigenen Stoffwechsel, wachse nicht, spreche nicht auf Reize an, kann mich nicht selbständig fortpflanzen. Aber ich kapere mir einfach eine Wirtszelle, nutze sie als Kopieranstalt, reproduziere mich et cetera pp. Oh ja, es kommt häufig zu Kopierfehlern – zum Glück, denn die schaffen genetische Vielfalt, sichern die Evolution.“
SARS-Viren werden also weiterhin eine Bedrohung für die Menschheit bleiben. Ein neues Phänomen in der Geschichte der Menschheit? Natürlich nicht. Die Verheerungen, die solche Minimini-Nichtlebewesen unter den Menschen bereits angerichtet haben, sind immens – und sie sind in die Literatur eingegangen. Allerdings waren es nicht immer Viren, sondern auch Bakterien - wie etwa das Bakterium Yersinia Pestis, das Pestbakterium.
Die Historikerin Barbara Tuchmann berichtet
Die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman (1912-1989) widmet in ihrem Buch über das 14.Jahrhundert unter dem Titel „Der ferne Spiegel“ (Originaltitel „The Distant Mirror-The Calamitous 14th. Century“ von 1978) der Pest ein ganzes Kapitel. Tuchman bezeichnet die Pest des 14.Jahrhunderts als „das verheerendste Ereignis der überlieferten Geschichte“ - trotz der Spanischen Grippe, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis zu 50 Millionen Menschen getötet hat. Eingeschleppt mit genuesischen Handelsschiffen vom Schwarzmeerhafen Kaffa auf der Krim (heute Feodossija) habe der „schwarze Tod“ in der Zeit von 1348 bis 1359 schätzungsweise ein Drittel der zwischen Island und Indien lebenden Bevölkerung hinweggerafft“. Der Chronist von Siena, Agnolo di Tura schrieb zum Beispiel: „Väter verließen ihre Kinder, Frauen ihre Männer, ein Bruder den anderen, denn die Pest schien mit Blicken und Atem übertragbar. So starben sie. Niemand war zu finden, der die Toten begrub, nicht für Geld und nicht für Freundschaft.“
Das Bakterium sei , manchen Quellen zufolge, aus China über Zentralasien, Indien, Persien, Ägypten und Kleinasien nach Europa gekommen. „Da es aber kein Bewusstsein von der Ansteckungsgefahr einer solchen Seuche “ gegeben habe, schreibt Barbara Tuchman, „war Europa nicht eher ernstlich beunruhigt, als die ersten verseuchten Schiffe die Pest aus der Levante nach Genua und Messina brachten.“
Die Verheerungen waren grauenerregend. In abgeschlossenen Lebensräumen wie etwa Klöstern und Gefängnissen habe , schreibt Barbara Tuchman, der erste Seuchentote - wie etwa in den Franziskanerklöstern von Carcassonne und Marseille - in aller Regel die Vernichtung aller nach sich gezogen. Francesco Petrarcas Bruder, ein Kartäusermönch, habe alle seine 34 Klosterbrüder beerdigt. Das Pestjahr 1349 habe, schreibt Barbara Tuchman weiter, in Paris täglich 800 Opfer, in Pisa 500 und in Wien 500 bis 600 Opfer gekostet. In Paris seien 50 000 Menschen dahingerafft worden, die Hälfte der Einwohner.
"Das ist das Ende der Welt"
Agnolo di Tora beschrieb die Folgen dieser Tragödie so:„Und keine Totenglocke ertönte, niemand wurde beweint, weil alle den Tod erwarteten ... Die Menschen sagten und glaubten: Das ist das Ende der Welt.“
Aller Voraussicht nach werden weder aber SARS-Viren, gleich ob gegenwärtig wütende oder künftige, noch Bakterien das Ende der Welt einläuten und die Menschheit vernichten. Das Potential zum Welt- bzw. Menschheitsuntergang hat heute eher der Klimawandel - genauer gesagt die bis jetzt nicht gestoppte Erderhitzung.
Ein Blick zurück in die Krankheitsgeschichte der Menschheit ist dennoch, wie die Pest zeigt, lohnend, zeigt er doch, daß die Verblüffung, mit welcher der Homo sapiens die Überrumpelung durch das SARS-CoV-2-Virus hingenommen hat, von erschreckender historischer Ignoranz zeugt. Denn Epidemien und Pandemien haben die Menschen immer wieder heimgesucht (Siehe auch Journal21 vom 17.10.20). Doch aus den Köpfen der meisten Menschen sind sie verschwunden - nur so ist offensichtlich zu erklären, dass nur einige wenige, die sich allerdings nicht medienwirksam äußern konnten, von den Gefahren ahnten.
Wenig oder gar nicht medienwirksam ist etwa, ganz aktuell, die durch den auch von Saudi Arabien angeheizten Bürgerkrieg im Jemen ausgelöste Cholera-Epidemie im Lande. Über 1,7 Millionen Verdachtsfälle sind erfaßt, 3400 Todesfälle sind gemeldet. Die Weltgesundheitsorganisation sieht die Cholera im Jemen als einen Teil einer seit 1961 grassierenden Pandemie, der längsten Pandemie derzeit überhaupt. Weltweit gibt es laut Weltgesundheitsorganisation jährlich 1,3 bis 4 Millionen Cholera-Fälle. 21.000 bis 143.000 Menschen sterben jedes Jahr an der Krankheit.
Robert Kochs Shutdown-Rezept
Auch in Deutschland war die Cholera nicht unbekannt - der letzte Ausbruch liegt allerdings knapp 130 Jahre zurück. Damals, 1892, brach die Krankheit in Hamburg aus, eingeschleppt vermutlich aus dem britisch besetzten Indien. „Vom 16. bis 23.August wuchs die täglich gemeldete Zahl neuer Fälle exponentiell; zwei, vier, zwölf, 31, 66, 113, 249, 338. Am 27.August waren 1024 Fälle und 414 Tote gemeldet worden“, schreibt der britische Sozialanthropologe Alex de Waal unter dem Titel „Pathogen und Politik“ in der in der Kulturzeitschrift Lettre International (Ausgabe 129, Sommer 2020); im Verlauf der nächsten sechs Wochen seien, schreibt de Waal weiter, etwa 10 000 Menschen an der Seuche gestorben.
Zur Bekämpfung der Epidemie waren seinerzeit zwei konkurrierende Wissenschaftler auf der Hamburger Bühne erschienen - der bayerische Chemiker und Hygieniker Max von Pettenkofer (1818-1901) und Robert Koch (1843-1910). Pettenkofer und seine Schüler, schreibt Alex de Waal, hätten der hamburgischen „Oligarchie von Kaufleuten“ nachgegeben, die möglichst wenig Eingriffe in das öffentliche Leben der Hanse- und Hafenstadt wollten; denn diese „kleine und privilegierte Gruppe wohlhabender Männer“ hätten einem Laissez-faire-Denken gehuldigt, das etwa Grossbritannien veranlaßt hatte, bei der Bekämpfung des Hungers in Irland und Indien mit äußerster Sparsamkeit vorzugehen“. Für die britischen Verwaltungsbeamten sei eine öffentliche Verschuldung das größere Übel gewesen als ein Massensterben, schreibt Alex de Waal.
Anders handelte Robert Koch, damals Leiter des „Preußischen Institutes für Infektionskrankheiten“ in Berlin. Robert Koch, Nobelpreisträger von 1905, war Entdecker des Milzbrand- und des Tuberkulose-Erregers, auch hatte er den Vibrio cholerae, der Erreger der Cholera, im Darm von Cholera-Toten entdeckt (wie zuvor schon 1854 der Italiener Fillippo Pacini).
Koch wurde von der Reichsregierung nach Hamburg entsendet. Er ließ die Schulen schließen, Versammlungen wurden verboten, fast der gesamte Verkehr wurde eingestellt. Auch die Arbeiter der Werft Blohm und Voß mussten zu Hause bleiben. Durch diesen Shutdown, wie man heute sagen würde, ebbte Epidemie allmählich ab. „Am Ende triumphierte Koch über Pettenkofer“, schreibt Alex de Waal. Man ist versucht, das Modell Pettenkofer mit der dem Laissez-faire ähnelnden schwedischen Anti-Corona-Strategie zu vergleichen, das Modell Koch mit dem deutschen Shutdown.
Die Cholera ist seitdem in Europa besiegt, weltweit grassiert sie weiter. Verschiedene Arten des Coronavirus aber bedrohen die Menschheit schon seit geraumer Zeit - etwa SARS-CoV 1 - eine Krankheit die 2002/2003 ausbrach, und MERS (Middle Eastern Respiratory Syndrom) aufgetreten 2012 auf der Arabischen Halbinsel, speziell in Saudi- Arabien. Fachleute wie etwa Alex de Waal prophezeien, daß SARS- und andere Viren auch in Zukunft eine Gefahr für die räumlich immer mehr zusammenrückende Menschheit bleiben werde, daß, mithin, die jetzige Pandemie vermutlich nicht die letzte sein werde.
De Waal schreibt: „In der Vergangenheit mochte ein zoonotisches Pathogen eine kleine Gruppe von Jägern und Sammlern infizierten, heute kann dank einer globalisierten, unendlich verbindungsreichen Welt ein einziger lokaler Ausbruch im Verlauf weniger Wochen zu einer Pandemie werden. .... Die neunzig Prozent nichtmenschlicher Biomasse aus Wirbeltieren auf unserem Planeten, die für unseren Konsum gezüchtet werden, leben - wenn man das denn Leben nennen kann - in Ökosystemen wie Legebatterien, für die es kein historisches Vorbild gibt. Diese sind perfekte Inkubatoren für neue Zoonosen.“
100 Billionen Mikroben und Bakterien
Corona-, Influenza- und andere Viren sowie Bakterien werden die Menschheit also vermutlich in stets kürzeren Abständen heimsuchen. So bleibt das eingangs vom Autor Rolf Schönlau zum Sprechen gebrachte Virus optimistisch. Es vergleicht die Geschichte der Menschheit mit der Geschichte des Virus und sagt:
Meine Sichtweise dürfte euch nicht fremd sein. Ihr sagt doch auch, das Ökosystem Mensch mit seinen 10 Billionen Zellen sei nur dazu da, 100 Billionen Mikroben und Bakterien ein Habitat zu bieten. Ja, die Mikroben hätten sich den Menschen erst geschaffen! Euch gibt es gerade einmal, grosszügig geschätzt, seit 300 000 Jahren. Die Mikroben immerhin seit 3,5 Milliarden Jahren und uns noch ein bißchen länger. Wir waren schon in der Ursuppe, im Urschleim. Das wisst ihr doch, sonst hättet ihr uns nicht „Virus“ genannt, lateinisch für „Schleim“.
Ein Partikel dieses „Schleims“ ist Tausende Male kleiner als ein Salzkorn. Eigentlich unfassbar, daß eine Ansammlung dieser Viren den ganzen Globus in Atem hält.