Seit bald 30 Jahren jagt eine Schulreform die andere. Es sind Hunderte von Teilprojekten. Und die Wirkung im Ganzen? Kaum jemand hat den Überblick; die Effekte ernüchtern nicht selten. [1] Und es wird weiterreformiert – immer auch mit dem Ziel: mehr Chancengleichheit bei ungleichen Startchancen erzielen oder Chancengerechtigkeit schaffen, wie es der neue Begriff postuliert.
Der elterliche Status prägt
Unzählige empirische Forschungsprojekte beschäftigen sich mit dem Lernerfolg junger Menschen und ihrer sozialen Herkunft. Dieses Feld zählt wohl zu den bestuntersuchten Forschungsgebieten der Pädagogik. Da werden Korrelationen hergestellt, da werden die Bücher im Elternhaus überprüft und die Bildungszertifikate gezählt und daraus der akademische Abschluss der Kinder prognostiziert. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Jugendliche aus sozial schwächerem Milieu haben es schwerer als Akademikerkinder. Diagnostiziert wird der berühmte Matthäus-Effekt: „Wer hat, dem wird gegeben.“ Das generelle Fazit aus den Studien zur Bildungsungleichheit: Der elterliche Hintergrund prägt, der sozioökonomische Status determiniert.
Die Zahlen zeigen es: 2016 stammten gemäss Bundesamt für Statistik 43 Prozent der Studierenden aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil über einen Hochschulabschluss verfügte. [2] Die Folge: Man ruft nach Massnahmen auf systemischer Ebene, man verlangt Eingriffe in die Strukturen, man fordert beispielsweise spätere Übertritte oder gar die Abschaffung der Übertrittsprüfung.
Was der bildungspolitische Diskurs oft vergisst
Und doch gelingt vielen der berühmte Aufstieg durch Bildung. Aus der Forschung wissen wir: Wirkung erzielen nicht primär Strukturen; das Systemische allein schafft die erhofften Effekte und Lernerfolge kaum. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit auf systemischer Ebene bleiben letztlich Utopie – ebenso wie die Losung, gesellschaftliche Gleichheit durch pädagogische Gleichheit zu erreichen zu können. Wirkung geht immer von Menschen aus, in der Schule konkret von den einzelnen Lehrpersonen.
Entscheidend ist, was innerhalb der Strukturen passiert, was in den zwischenmenschlichen Interaktionen geschieht – oder anders ausgedrückt: Wie gut der Unterricht ist. Im bildungspolitischen Diskurs geht das schnell vergessen. Ein Denkfehler!
Die Haltung zum Lernen verändern
Und noch etwas wissen wir: Jeder Bereich einer förderlichen Begegnung ist personal und hängt in hohem Masse davon ab, wie sehr wir als Person berührt werden und uns angesprochen fühlen. Das gilt ganz besonders für den Unterricht. Darum können auf personaler Ebene Lehrerinnen und Lehrer einen Unterschied machen und vor allem die weniger privilegierten Kinder und Jugendlichen auf ihrem Lern- und Lebensweg unterstützen. Sie haben es in der Hand, dass (auch) diese Schülerinnen und Schüler fachlich und menschlich besonders gefördert und vor allem gefordert werden. Darum betont Roland Reichenbach, Pädagogikprofessor an der Universität Zürich, dezidiert: „Nicht Tablets und digitale Techniken sind dringlich, vielmehr benötigen heute zahlreiche Kinder und Jugendliche vermehrt Anleitung, Unterstützung, Rückmeldung und Ermutigung.“ [3] Das fördert sie auch in ihrer Haltung zum Lernen. Und das kann allein von vital präsenten Menschen geleistet werden.
Selbstbestimmung erfordert angeleitete Lernprozesse
Wichtig ist eben die Lehrperson und entscheidend ihr Unterricht. Die empirische Unterrichtsforschung belegt es vielfach. Darum fordert Reichenbach angeleitete Lernprozesse. Sie erzielen hohe Wirkwerte. Gleichzeitig erstaunt immer wieder, wie viele Schulreformer jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliesslich vom Lernenden her sehen wollen. Sie marginalisieren so das Bedeutsame der Lehrerin und degradieren den Lehrer zum blossen Lernbegleiter. Unter dem propagierten „Shift from Teaching to Learning“ darf er nicht mehr Lehrer sein, sondern nur noch „Guide at the Side“. [4]
Zur Verantwortung fürs autonome Lernen führen
Dieser reformpädagogische Überoptimismus geht vom kindlichen Können und Vermögen ohne jede Anleitung aus. Verschiedene Lernpsychologen wie der Berner Hochschullehrer Hans Aebli zeigen aber auf, dass die kognitive Entwicklung der Kinder von aussen nach innen verläuft und – je nach Voraussetzung – mehr oder weniger angeleitet von einem kompetenteren Gegenüber. [5]
Lernen, Denken und Problemlösen sind zunächst immer sozial. Das Ich wird am Du ein Selbst – im Dialog zwischen zunächst ungleichen Partnern. Nach und nach übernehmen die Lernenden die Verantwortung für ihr Lernen und ihr autonomes Weiterkommen. Doch von selbst entsteht das nur bei wenigen. „Im Andern zu sich selbst kommen“, resümiert darum der Philosophen Georg Friedrich Hegel das Wesen der Bildung. Oder konkret auf das pädagogische Parterre übertragen: Vor allem leistungsschwächere und mittelstarke Kinder und Jugendliche sind mit Selbstorganisation und Eigenverantwortung für ihr Lernen oft überfordert; das weiss jede engagierte Lehrerin, das ist jedem erfahrenen Pädagogen bewusst.
Die Hilfe aus dem Elternhaus
Viele moderne Reformen aber gehen von der Utopie des selbstregulierten Lernens und der selbstorganisierten Bildung aus. Mit diesem Blickwinkel wird das Lernen unbemerkt zunächst an die Eltern delegiert – und in letzter Konsequenz den Kindern und Jugendlichen selbst überantwortet. Ob das die vielzitierte Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit stärkt?
Zwei Beispiele illustrieren die Tendenz. Die Reform hat viele Namen: Schreiben nach Gehör, lauttreues Schreiben, Lesen durch Schreiben oder „Reichen-Methode“, benannt nach dem Erfinder, dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. [6] Die Kinder lernen mit einer „Anlauttabelle“ texten – selbstgesteuert. Sie schreiben dann drauflos, ohne auf die Rechtschreibung zu achten. Die Lehrerin darf weder intervenieren noch korrigieren. Dazu der emeritierte Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers, Universität Zürich: „Schüler prägen sich durch falsches Schreiben die eigenen Fehler ein. Unsere Söhne haben nach diesem Prinzip schreiben gelernt. Aber meine Frau und ich haben das zu Hause einfach immer korrigiert.“ [7] Der Vorteil des bildungsaffinen Elternhauses! Und die anderen Kinder?
Die Schere im Bildungsmilieu weitet sich
Ein zweites Beispiel: Verschiedene kommunale Schulen streichen die offiziellen Hausaufgaben. Man postuliert Chancengleichheit. Die Bildung aber kennt das „Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig vielleicht wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen. Wer die Hausaufgaben abschafft, schafft sie trotzdem nicht ab. Bildungsbewusste Eltern werden mit ihren Kindern weiterhin wiederholen und automatisieren. Sie wissen um den Wert des Übens und Festigens. Kinder aus anderen Familien haben diese Chance vielleicht nicht. Die nicht beabsichtigte Folge: Die Schere im Bildungsmilieu öffnet sich weiter.
Junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern. Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen sollte man das nicht. Bildungspolitiker müssten darum bei jeder Reform die altrömische Devise beachten: „[…] et respice finem“ – die Folgen abschätzen. Ein Grundsatz ohne Verfalldatum!
[1] Martin Beglinger: „Das ist vernichtend!“ Die Antworten der Bildungsforscher über die Wirkung der Schulreformen in der Schweiz sind ernüchternd. In: NZZ, 31.08.2018.
[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsindikatoren/themen/zugang-und-teilnahme/soziale-herkunft-hs.html [Status: 23.10.2021]
[3] Roland Reichenbach (2020): Homeschooling, Distant Learning und das selbstorganisierte Kind. In: Merkur 08, S. 38.
[4] Ewald Terhart (2018): Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.
[5] Hans Aebli (1978): Von Piagets Entwicklungspsychologie zur Theorie der kognitiven Sozialisation. In: Gerhard Steiner (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band VII: Piaget und die Folgen. Zürich: Kindler, S. 604-627.
[6] Barbara Höfler (2019): Sind fiele Feler schädlich? In: NZZ Folio 4, S. 32.
[7] https://www.wireltern.ch/artikel/wer-sagt-dass-kinder-sich-nicht-anstrengen-sollen [Status: 23.10.2021]