Im Irak führt der „Islamische Staat“ (IS) vermehrt Bomben- und Giftgasangriffe durch. Auch in Syrien mehren sich die IS-Bombenattacken. In Libyen festigt die Terrororganisation mehr und mehr ihre Positionen, aber auch in Tunesien, Jordanien und Südjemen versucht sie, festen Fuss zu fassen.
Doch es gelingt dem IS immer weniger, neue Territorien zu gewinnen. Die letzten grossen Geländegewinne gehen auf den Mai 2015 zurück. Damals eroberten IS-Kämpfer vom Euphrat-Gebiet aus die syrische Wüstenstadt Palmyra und drangen nach Westen vor.
Weniger Lohn für IS-Kämpfer
Im Irak hat der „Islamische Staat“ sogar Territorium verloren. Im Dezember und Januar eroberten irakische Regierungstruppen zusammen mit Stammesmilizen und schiitischen Kämpfern die Stadt Ramadi in der Anbar-Provinz zurück. Im November hatten die Kurden Sinjar zurückerobert, die zerstörte Hauptstadt der Jesiden, die an der syrischen Nordgrenze liegt.
Gleichzeitig hat sich die finanzielle Lage des IS verschlechtert. Die Organisation sah sich gezwungen, die Gehälter, die sie ihren Kämpfern bezahlt, um mindestens ein Drittel zu kürzen. Der IS bezeichnete dies als eine "temporäre Massnahme".
Furcherregende Präsenz demonstrieren
Vor allem in den „Emiraten“ des „Kalifats“, also in den Gebieten ausserhalb des IS-Kernlandes, mehren sich die Selbstmordanschläge und Giftgasattacken. Mit diesen vermehrten mörderischen Aktivitäten will der IS offenbar seine furchterregende Präsenz weiterhin propagandistisch demonstrieren.
Früher verübten Selbstmordattentäter Anschläge, indem sie Sprenggürtel zündeten. Immer häufiger wird jetzt Sprengstoff in Lastwagen oder Tankwagen verpackt und zur Explosion gebracht. Solch riesige Sprengladungen haben eine verheerende Wirkung. Opfer sind nicht nur zahlreiche Zivilisten, sondern oft auch Soldaten und Polizisten, die Strassensperren oder Gebäude bewachen.
Rache für Rache
Im Irak werden mit Vorliebe schiitische Wohnquartiere und schiitische Stadtteile für solche Angriffe ausgesucht. Diese Taktik dient der schon von al-Zarqawi, dem Vorgänger al-Bagdadis, vor zehn Jahren begonnen Politik, die Schiiten und die Sunniten gegeneinander aufzuhetzen. Die Schiiten sollen so dazu motiviert werden, an den Sunniten Rache zu nehmen. Dies wiederum soll die Sunniten gegen die Schiiten aufhetzen und sie in die Arme des sunnitischen „Islamischen Staats“ zu treiben.
Die jüngsten Anschläge im Irak verdeutlichen die neue Taktik: Ein Tankwagen explodierte am 6. März bei einer Strassensperre vor der südlichen Stadt Hilla. Der Explosion, die auch Häuser zertrümmerte, fielen "mindestens 41 Personen" zum Opfer. Später war gar von 60 Toten die Rede, die meisten von ihnen Zivilisten. Hilla ist eine schiitische Stadt.
Anschlag auf ein Begräbnis
Am Tage zuvor waren sieben Mitglieder der schiitische Milizen bei einem Selbstmordanschlag ausserhalb von Ramadi ums Leben gekommen. In der Woche davor hatte ein Bombenanschlag auf einem Markt im schiitischen Sadr-Viertel von Bagdad dreissig Menschen das Leben gekostet.
Beim Begräbnis der Toten explodierte eine weitere Bombe und riss erneut dreissig Menschen in den Tod. Am 28. Februar forderte ebenfalls in Sadr-City ein Anschlag "mindestens 24" Opfer. In Abu Ghraib, westlich der Hauptstadt, starben bei Anschlägen und Kämpfen 59 Menschen.
"Primitive" Giftgasraketen
Das vom IS fabrizierte und verwendete Giftgas basiert auf einer primitiven Technologie. Eisenröhren werden mit Chlorin oder Senfgas gefüllt und abgeschossen. Diese Art Raketen werden gegen Kurden eingesetzt, die nicht gegen Giftgasangriffe gewappnet sind. Am 28. Februar wurde die kurdische Garnison in Sinjar mit 19 solchen Raketen beschossen. Zwar waren keine Todesopfer zu beklagen, doch rund 170 Soldaten mussten sich wegen Brechreiz und Schwindel in Krankenstationen behandeln lassen.
Laut Einschätzung von Fachleuten verstreuen diese „Niedrig-Technologie-Waffen“ das Gift nicht konzentriert auf weiten Gebieten. Todesopfer verursachen sie deshalb selten. Doch das Giftgas macht die Verteidiger vorübergehend kampfunfähig. Diese Situation nutzen die IS-Kämpfer dann zu ihren Angriffen. Diese Taktik verfolgte die Terrorgruppe auch an der langgezogenen kurdischen Front, und zwar schon vor dem Angriff auf Sinjar. Die amerikanischen und russischen Bombenangriffe haben bisher den Bau solch primitiver Giftgasraketen nicht verhindern können.
Expansion des Terrors nach Tunesien
Was die Expansionsversuche in Nordafrika angeht, so ist Tunesien ein logisches Ziel, weil im Nachbarland Libyen Chaos herrscht. Der IS dominiert in der libyschen Syrte ein weites Gebiet und unterhält Zellen in libyschen Städten und Ortschaften.
In Tunesien sind die arbeitslosen Jugendlichen und jungen Männer enttäuscht, dass ihnen der Arabische Frühling keine Arbeit und keine Verbesserung ihrer Lebenssituation gebracht hat. Dies gilt besonders für die Bewohner im Innern des Landes, wo die Verhältnisse noch schlechter sind als an der etwas reicheren Küste.
US-Angriff auf tunesische IS-Kämpfer
Im Landesinneren hat in den letzten Monaten die Verzweiflung und Enttäuschung der Jugend erneut zu Demonstrationen geführt. Sie glichen jenen, die im Januar 2011 den Sturz des damaligen Diktators Ben Ali zur Folge hatten. Zwei IS-Anschläge am Strand von Sousse und im Bardo-Museum in Tunis haben dazu geführt, dass die Touristen das Land meiden, was der Wirtschaft der jungen Demokratie einen Schlag versetzt. Als Folge der schlechten Wirtschaftslage kann der IS in Tunesien zunehmen junge Männer für seinen Kampf in Syrien und in Libyen mobilisieren.
In der Nacht auf den 19. Februar haben amerikanische Kampfflugzeuge und Drohnen ein Gehöft in der Nähe der libyschen Stadt Sabratha bombardiert. Sabratha liegt etwa 90 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt. Dort sollen offenbar IS-Kämpfer aus Tunesien auf Einsätze vorbereiteten werden. Angeblich starben bei dem Angriff 41 IS-Kämpfer, aber auch Zivilisten. „Möglicherweise“, so hiess es, kam auch IS-Chef Couchane ums Leben. Er, ein Tunesier, gilt als Drahtzieher des Anschlags auf das Bardo-Museum, bei dem 21 Touristen erschossen wurden (in Sousse waren es 38). Doch den Amerikanern gelang es bei ihrem Angriff offenbar nicht, alle im Grenzraum stationierten IS-Untergrundkämpfer zu treffen.
Festungsgraben in der Wüste
Am 7. März wurde der tunesische Grenzposten Ben Guerdane von IS-Kämpfern, die von Libyen herkamen, angegriffen. Die tunesische Armee kam den Grenzsoldaten zu Hilfe. Bei einem nächtlichen Kampf, der bis zum Morgengrauen dauerte, sollen 21 IS-Milizionäre gefallen sein; sechs wurden gefangen genommen. Mindestens vier oder fünf der Angreifer seien Tunesier gewesen.
Tunesien hat einen 200 Kilometer langen Festungsgraben in der Wüste entlang der libyschen Grenze gezogen, um das Eindringen von IS-Infiltranten zu erschweren. Die Zahl der Tunesier, die zum IS übergelaufen sind, wird auf ungefähr 5’000 geschätzt.
IS Präsenz in Jordanien
Jordanien steht unter dem Druck einer gewaltigen Flüchtlingswelle aus Syrien. Auch dort versucht der IS, Zellen zu bilden.
In der Nacht des 2. März kam es zu mehrstündigen Kämpfen in Irbid, der jordanischen Stadt an der Jordansenke, etwa 15 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Die Sicherheitskräfte führten Razzien durch, in deren Verlauf 13 vermutliche IS-Kämpfer festgenommen wurden. Sieben weitere Terroristen nahmen Zuflucht in einer Wohnung in Irbid und weigerten sich, die Waffen strecken. Bei einem anschliessenden Feuergefecht starben ein jordanischer Hauptmann und drei Soldaten. Auch die sieben Terroristen wurden getötet. Sie sollen Sprenggürtel getragen haben; in ihren Schlupfwinkeln wurden Waffenvorräte gefunden. Laut Angaben der Sicherheitskräfte haben die Terroristen verschiedene Anschläge in Jordanien geplant.
IS-Untergrundzellen in Jemen
Am anderen Ende der arabischen Welt, in Südjemen, hat der IS ebenfalls Untergrundzellen gebildet und führt Anschläge durch. In erster Linie in Aden. Dort bestehen Gegensätze zwischen den südjemenitischen Milizen und den Streitkräften von Präsident al-Hadi sowie den verschiedenen arabischen Einheiten, die aus den mit Saudi-Arabien verbündeten Staaten nach Jemen entsandt worden sind.
All diese Kräfte haben gegen die Huthis gekämpft. Doch nach deren Vertreibung aus Aden haben sie sich nicht vereinigen können, weil sie gegensätzliche Ziele verfolgen. Die Südjemeniten suchen sich von Sanaa und Nordjemen zu lösen. Demgegenüber wollen die Pro-Hadi- und die Pro-Saudi-Kräfte ihre Machrt auf ganz Jemen ausdehnen, also auf Süd- und Nordjemen. Sie kämpfen deshalb weiterhin gegen die Huthis, die trotz andauernden Bombardierungen weiterhin die Stadt Taez belagern und die Hauptstadt Sanaa sowie den jemenitischen Norden beherrschen.
Anschlag auf ein christliches Altersheim
Dem IS, der auch gegen al-Kaida Kämpft, ist es gelungen, die südlichen Milizen zu infiltrieren und sich in den südjemenitischen Provinzen und in der Hafenstadt Aden einzunisten. Am 4. März führten IS-Terroristen einen Anschlag auf ein Altersheim in Aden durch, das von christlichen Nonnen des Ordens der Mutter Theresa geleitet wird. 15 Pflegerinnen wurden zuerst gefesselt und dann erschossen. Unter ihnen befanden sich vier Nonnen, zwei aus Ruanda, eine aus Kenia und eine aus Indien. Ein Priester indischer Nationalität wurde entführt.
Im Altersheim waren 80 ältere Obdachlose untergekommen. Nach Angaben des jemenitischen Sozialministers schätzt man die Zahl der obdachlosen alten Leute in Jemen auf 240'000. Staatliche Altersvorsorge gibt es in Jemen nicht. Al-Kaida erklärte, Angriffe auf Altersheime gehörten nicht zu ihren Kampfmethoden. Auch der IS weist jede Schuld von sich, doch die Regierung macht ihn dafür verantwortlich.
Gebietsgewinne von al-Kaida
Zuvor, am 22. Februar, war ein Armeegeneral der Pro-Hadi Truppen, der die Armeeinheiten der Nachbarprovinz von Aden, Abyan, kommandierte, im Tawahi-Quartier von Aden, das als besonders unsicher gilt, erschossen worden. Am 17. Februar starben bei einem Selbstmordanschlag vor dem Präsidentenpalast in Aden 14 Soldaten. Am 31. Dezember 2015 war der militärische Chef der Stadt Aden ermordet worden. Zuvor, am 6. Dezember, der Gouverneur der Hafenstadt zusammen mit vier Leibwächtern und am gleichen Tag, bei einem weiteren Anschlag, ein Oberst der Armee al-Hadis.
Während sich der IS auf Anschläge spezialisiert, versucht al-Kaida in Jemen („al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ AQAP) Territorien in Besitz zu nehmen. Nach Mukallah, der Hafenstadt an der entfernten Westküste Jemens, wo AQAP schon lange regiert, hat al-Kaida nun auch die beiden wichtigsten Städte der westlichen Nachbarprovinz Adens, Abyans, erobert.
Bombenanschläge an Stelle von Landgewinn
Es wäre wahrscheinlich verfrüht, aus den Aktivitäten des IS schliessen zu wollen, dass es sich um Verzweiflungsaktionen der Terroristen handelt. Doch die Verlagerung ihrer Aktivitäten zeigt, dass sie versuchen, ihr Prestige als unermüdliche Kämpfer auch weiterhin aufrecht zu erhalten, obwohl sie keine Geländegewinne mehr vorweisen können.
Wahrscheinlich wird der IS diese Strategie intensivieren, wenn er künftig weitere Territorien seines "Kalifats" verliert. Etwa dann, wenn der geplante Angriff der irakischen Armee und irakischer Milizen auf Mosul beginnt, oder wenn Rakka, die Hauptstadt des IS am Euphrat, fallen sollte. Es ist eine oft beobachtete Entwicklung, dass Terrorgruppen, wenn sie in die Enge getrieben werden, nicht aufgeben, sondern aus dem Untergrund heraus weiter aktiv bleiben.