Wem der Liberalismus als Idee einer freiheitlichen politischen Ordnung in unserem demokratischen System wertvoll erscheint, der muss beunruhigt sein. Liberalismus ist vielerorts zum abwertenden Neoliberalismus mutiert, das Verständnis von Freiheit hat sich aufs egoistische persönliche Wohlergehen reduziert. Unsere westlichen Demokratien verlieren gegenüber den autoritär geführten «Demokraturen» laufend an Einfluss, gleichzeitig driften die Gesellschaften auseinander.
Vergifteter Neoliberalismus
In Zeiten einer Margaret Thatcher, eines Gerhard Schröders, Bill Clintons und Tony Blairs entwickelte sich ein ursprünglich bejubelter Neoliberalismus zu einer Art Zeitgeist, der auf gesellschaftlich progressiven Leitmodellen basierte. Erst mit der Zeit, als z. B. in Grossbritannien die katastrophalen Konsequenzen eines privatisierten Eisenbahnnetzes sichtbar wurden und mit der Finanzkrise 2007/2008 änderte sich die Wahrnehmung. Leistungswettbewerb in Ehren: wenn die Staaten ihre grössten Banken mit Staatsgeldern retten mussten, spätestens in dem Moment hatte sich diese Art von Wettbewerb ad absurdum geführt.
Gefährdete Freiheit
Nach 75 Jahren relativer Ruhe und ohne Krieg sind in Europa die Errungenschaften der abendländischen Zivilisation vom Lärm der globalisierten Weltwirtschaft und allgegenwärtigen Zwang der digitalisierten Diskussions(un)kultur verdrängt worden. Im Schatten dieses Trends reden sich immer öfters Demagogen-Populisten an die Spitze ihrer Nationen, von der Volksmehrheit gewählt, die in ihnen den Löser aller Probleme – ihren Führer – sieht. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts gehören nicht zu ihrem Erfahrungspotenzial.
Dass der Autohändler Walter Frey in der NZZ am Sonntag gegen die Autofeinde antritt und seine Version von Freiheit ausbreitet, «Sich in ein Auto setzen und einfach irgendwohin fahren – diese Freiheit bleibt uns auch in dieser schweren Zeit», ist nur noch peinlich.
Überholte Demokratien?
Bereits melden sich Schriftsteller wie Lukas Bärfuss zu Wort: die Demokratie ist überholt, meinen sie, aus der Zeit gefallene veraltete Institutionen bewiesen dies. Die Demokratie habe sich überlebt. Als einer, der die Schwerfälligkeit der Schweizer Politik, seiner politischen Repräsentanten, die Kirchturmpolitik und den Kantönligeist immer wieder kritisiert, ist der Schreibende dennoch überzeugt von unserer föderalen Demokratie. Freiheit, Gleichheit und Recht stehen in einem ausgeklügelten Verhältnis zueinander. «Gewaltenteilung, Garantie des Eigentums, Meinungsfreiheit und der Schutz des Einzelnen vor der Macht der Mehrheit» (NZZ), darauf möchten wir nicht verzichten.
Auseinanderdriftende Gesellschaft
Seit der Dienstleistungssektor die postindustrielle Phase überlagert, schreitet die Spaltung der Gesellschaft voran. Auf der einen Seite die hochqualifizierten, gut gebildeten, mobilen und liberalen Menschen in den Metropolen, vornehmlich gut situiert: sie sind die Gewinner. Auf der anderen Seite niedriger qualifizierte, mangelhaft ausgebildete, «abgehängte», ärmere Bevölkerungsschichten, auf dem Land und in den Agglos lebend – sie sehen sich als Verlierer der Globalisierung. Dort die Neoliberalen mit ihrer Forderung nach weniger Staat, hier die Linksliberalen mit dem Drang nach mehr Individualismus. Ihr ideologisch gewordener Multikulturalismus relativiert mehr und mehr die freiheitlichen Errungenschaften der westlich emanzipierten Zivilisationen
Alte Volksparteien
Es ist eine leide Tatsache, dass die Bevölkerung vieler europäischer Länder immer lauter ihren Unmut bekundet mit der Art und Weise, wie die politischen Vertreterinnen und Vertreter die anstehenden Probleme lösen – oder eben nicht. Sie demonstriert ihren Unmut bei Wahlen und Abstimmungen. Nicht zu Unrecht ist ihre Ungeduld die Antwort darauf, dass die politische Klasse auf die neuen Herausforderungen keine überzeugenden Antworten findet. Aktuelles Beispiel aus der Schweiz: Nach 17 Jahren ausufernder Wortgefechte über ein zeitgemässes «Whistle-Blower-Gesetz» – nichts, kein neues Gesetz, keine Spur von Kooperationswille. Oder in der EU: die Reaktion auf die Klimaerwärmung; das Resultat der Diskussionen – Greta Thunberg bezeichnet es schlicht als «Katastrophe».
Polarisierender Nationalismus
Seit mehreren Jahren bedroht ein penetranter Nationalismus, gepaart mit der von populistisch agierenden Präsidenten beschworenen Identitätspolitik unsere Freiheit, die Freiheit innerhalb der EU und den USA. Und schliesslich erkämpfen sich religiöse, fundamentalistische Sekten brutal ihre Vision des Gottesstaates – alle, die nicht folgen, sind «Ungläubige».
Charismatische Populisten
Bekannt, beschrieben und gefürchtet seit der Antike verstehen es diese starken Männer dank ihres Auftretens und ihrer Redebegabung ausgezeichnet, kleinere oder auch mal grössere Volksgruppen zu ideologisieren – zu verführen. Sie rütteln hemmungslos an den demokratischen Institutionen und verfolgen dabei persönliche Ziele: ihre Machtbasis auszubauen und wiedergewählt zu werden. Sie ignorieren verfassungsrechtliche Schranken, kritisieren Richter scharf und verhöhnen politische Gegner, die sich an die demokratischen Spielregeln halten. Sie versprechen ihren Wählern das Blaue vom Himmel herunter und die ruhmreiche Erstarkung der eigenen Nation («Make America great again!»).
Wie weiter?
«Vernunft, Wissenschaft, die liberale Demokratie, verbriefte Rechte, eine freie Presse, regulierte Märkte, Institutionen für die internationale Kooperation – diesen Fortschritt nehmen die meisten Leute nicht wahr, weil ihr Verständnis der Welt nicht auf Zahlen basiert, sondern auf Schlagzeilen», resümiert Steven Pinker, Professor für Psychologie an der Harvard University (NZZ).
Gesucht sind somit emotional packende Schlagzeilen, die vermitteln, was Zahlen, Fakten, Statistiken und Wähleranteile niemals können: Einfache Geschichten, verblüffende Win-win-Kooperationen, vertrauenserweckende Erfolgsgeschichten, glücklich machende Start-ups, staunenswerte Firmenportraits, respektzollende Lebensläufe.
Das grosse Missverständnis, wonach sich Rechts und Links ewig zu bekämpfen hätten, ist schon lange widerlegt. Zurück zu staatlich überregulierten Märkten, aber auch die kommunistisch angehauchten ideologischen Utopien, beides bringt uns nicht weiter. Es braucht die Mitte, wo Lösungen wachsen und gedeihen können.
Wer bietet die nötigen Debattierräume? Welches Unternehmen schafft Platz für den Diskurs der Kompromisse?
Auch in Corona-Zeiten: Kaum klingen die Sondermassnahmen aus, öffnen sich im National- und Ständerat die alten Gräben: Wie eh und je bekämpfen sich die politischen Parteien. Jede von ihnen kocht ihr Süpplein, versucht aus der Krise für das Parteibuch Vorteile zu erzielen. Nicht lernfähig.