Mit Recht verwiesen die Veranstalter des Dreiländertreffens in Innsbruck auf die arabischen Staaten, wo wie in einem Dominoeffekt das Recht auf Demokratie und Selbstbestimmung teilweise unter Lebensgefahr erstritten wird. In den westlichen Staaten hingegen befinde sich die Demokratie auf dem Rückzug. Die Beteiligung an politischen Wahlen sei rückläufig. Hier stelle sich die Öffentlichkeit „zersplittert, hybrid und diffus dar, zerlegt in mediale Ebenen, nach Interessen und Mentalitäten unterschiedlich genutzt und instrumentalisiert…“
Vor 50 Jahren, daran erinnerte die Innsbrucker Tagung, hat Jürgen Habermas in einem Standardwerk Strukturwandel der Öffentlichkeit den „öffentlichen Raum“ als Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie beschrieben. Inzwischen haben eine „entgrenzte Ökonomie“ (Globalisierung), welche die Grenzen der nationalen Demokratie sprengt, Deregulierung, Privatisierung und Kommerzialisierung den „öffentlichen Raum“ nicht nur „besetzt, sondern zersetzt und zerfasert“. Wie ist, zum Beispiel, in diesem geschrumpften „öffentlichen Raum“ demokratische Selbstregulierung noch möglich, wo Medienorganisationen auf Medienkonsumenten und nicht mehr auf Staatsbürger zielen ?
Personalisiertes Konfliktspektakel
Die Folgen dieses Strukturwandels versuchten die Zürcher Medienwissenschafter Patrick Ettinger und Sarah Zielmann am Beispiel der innenpolitischen Berichterstattung von Printmedien der Schweiz über die letzten 50 Jahre aufzuzeigen. Es habe eine deutliche Verschiebung weg von der Legislative zur Exekutive stattgefunden.
Die Medien, welche die Entscheidungen des Parlaments transparent machen und damit den Willensbildungsprozess der Bevölkerung erklären sollten, konzentrierten sich auf die Exekutive. Hier lasse sich Politik als personalisiertes Konfliktspektakel viel besser verkaufen. Der Anteil von Auslandnachrichten sei zurückgegangen, während „soft news“ und „human-interest“ - Stories markant angestiegen seien.
Unkritische Wirtschaftsberichterstattung
Ausgerechnet die Wirtschaftsberichterstattung, die heute ganz besonders im kritischen Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen müsste, ist noch wenig erforscht. Dies stellen Mark Eisenegger und Mario Schranz (Universität Zürich) in einer Langzeituntersuchung von Schweizer Medien (1962 – 2010) fest.
Ihre Befunde: Parallel zur Kommerzialisierung des Mediensystems findet seit den 1980er Jahren eine markante Expansion der Wirtschaftsberichterstattung statt. Es ist aber nicht die Makroökonomie (Konjunkturentwicklung, Volkswirtschaften) sondern die Berichterstattung über Unternehmen und ihre Rollenträger, die in den Vordergrund treten.
Dieser Trend zur Mikroebene erkläre auch, warum es dem Wirtschaftsjournalismus nicht gelinge, rechtzeitig auf krisenhafte makroökonomische Entwicklungen wie die Finanzmarktkrise hinzuweisen. Der Wirtschaftsjournalismus habe die Distanz zu seinem Objekt, der Wirtschaft, eingebüsst. „Daraus tendiert eine Tendenz zu einer entweder euphorisch-unkritischen oder aber pessimistisch-skandalisierenden Interpretationslogik des Wirtschaftsgeschehens.“
Wissensproduktion - in wessen Interesse ?
Jürgen Nordmann (Linz) sieht die Wirtschaftsressorts der FAZ, SZ, der NZZ sowie der Weltwoche als Zentren des neoliberalen Denkens im deutschen Sprachraum. „Sie vermitteln das Denken der Original Thinker (F. von Hayek) in einer Form, die vor allem den wirtschaftlichen Eliten angemessen erscheint.“ Der Finanzcrash von 2008 habe das neoliberale Denksystem zwar erschüttert. Aber nur für eine kurze Zeit. Weil eine Kernschmelze des kapitalistischen Systems und auch ein Elitewechsel nicht stattgefunden hätten, so Nordmann, habe sich die neoliberale Argumentation „Der Staat ist an allem schuld“ wieder konsolidiert.
Wer bestimmt heute, welche Themen und Meinungen in der Öffentlichkeit zur Sprache kommen (Agenda Setting): die Politik, die Medien oder Think Tanks (Denkfabriken), die in letzter Zeit rasch zugenommen haben und deren Auswirkungen auf die Öffentlichkeit immer bedeutender werden ? Es sind konservative Think Tanks, die in den USA schon seit Jahren dafür gesorgt haben, dass im Bewusstsein der Öffentlichkeit heute „privat“ als normal und „öffentlich“ als abnormal, negativ besetzt sind.
Leicht durchschaubare Welt
Die Funktion der Denkfabriken bringt Andrea Bührmann (Göttingen) auf den Punkt: „Sie generieren die Probleme, die sie mit ihrem Wissen lösen wollen.“ Weil die Produktion von Wissen eng mit wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen verbunden sei, will Bührmann die noch weitgehend unerforschte Rolle der Think Tanks im Spannungsfeld zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Interessen untersuchen. Die Soziologin befürchtet eine Politisierung und Oekonomisierung des Wissens, bevor wir im 21. Jahrhundert überhaupt von einer „Wissensgesellschaft“ sprechen können.
Einen spannenden und beunruhigenden Einblick in das Weltbild der Öffentlichkeit, die nur über das Fernsehen „informiert“ wird, bot Peter Ludes (Bremen). Er hat die Jahresrückblicke des Fernsehens aus den USA, Deutschland und Brasilien nach Key Visuals (Schlüsselbilder) untersucht. „Die visuellen Narrative (rund 16 Sekunden pro Bild) begrenzen sich auf kurzfristige Horizonte, konzentrieren sich aufs eigene Land und das Staatsoberhaupt. Der TV-Zuschauer erhält den Eindruck einer leicht durchschaubaren Welt, die zudem noch unterhaltsam ist. Schwierige Zusammenhänge werden verschleiert oder ganz ausgeblendet, weil Recherchen zu aufwendig oder zu kontrovers sind. Viel wichtiger ist oft das, was nicht gezeigt wird.“ Auf der Strecke bleiben die Aufklärung und Analyse einer komplexen Welt. Der Zuschauer wird als Bürger nicht ernst genommen.
Warnende Stimme aus den USA
Craig Calhoun (New York City) warnte die europäischen Kollegen vor dem naiven Glauben, die „neuen Medien“ im Cyberspace seien die magische Formel, welche die Probleme im „öffentlichen Raum“ lösen könnten. Im Gegenteil. Der Trend zur Kommerzialisierung und zu Monopolen bei den „alten Medien“ würde durch das Internet nur verstärkt. Seit dem Ende des Kalten Krieges hätten Sparmassnahmen der US - Medienkonzerne dazu geführt, dass 85 Prozent der Auslandkorrespondentenposten gestrichen worden seien. Die Bevölkerung der Weltmacht USA ist heute über die Welt schlechter informiert als früher - und dies trotz Internet.
In Innsbruck war man sich einig: Demokratie ist auf eine funktionierende und starke Öffentlichkeit dringend angewiesen. In der politischen Öffentlichkeit schlägt der demokratische Puls moderner Gesellschaften. Doch dieser Puls-Schlag wird schwächer, droht zu kollabieren, weil der öffentliche Raum enger und die Sauerstoffzufuhr knapper wird. Ist eine Rückeroberung des öffentlichen Raumes noch möglich oder ist er bereits schon so zersetzt, dass er nicht mehr gerettet werden kann ? Oder anders gefragt: Wo sind Europas „Tahir-Plätze“ ?