Wladimir Putins kürzlich an die Adresse der USA gerichtete Frage war nur schein-rhetorisch: Wie würden Sie reagieren, wenn russisches Militär in der Nähe der US-Grenze stationiert würde? Und kaum waren die bilateralen Gespräche in Genf und danach das Treffen im Rahmen des Nato-Russland-Rates in Brüssel vorbei, äusserte ein Mitarbeiter des russischen Präsidenten, er, respektive sein Chef, könnten die Entsendung eigener Truppen nach Kuba und/oder Venezuela «nicht ausschliessen».
Die nächste Runde im Poker der Supermacht USA und der Grossmacht Russland ist also möglicherweise nur noch eine Frage der Zeit. Denn in Moskau hat sich derart viel Frustration aufgestaut, dass auch widersinnige und in keiner Weise zielführende Aktionen nicht mehr auszuschliessen sind
Einmal mehr wird jetzt bei Regierungen in Westeuropa und in den USA die Frage diskutiert, was es denn ist, respektive war, das Russlands Führung derart in Rage versetzte, dass sie sich zur Präsentation nicht erfüllbarer, ultimativer Forderungen motiviert sah. Nicht erfüllbar heisst u. a.: Verbot eines (derzeit nicht aktuellen) Nato-Beitritts von Finnland und Schweden. Nicht weniger beinhalten ja die zwei vertragsähnlichen Dokumente, die Russland publizierte und auf die Aussenminister Lawrow am Freitag, 14.1., eine schriftliche Antwort verlangte.
Wie berechenbar ist der ukrainische Präsident?
Klar, weder Finnland noch Schweden stehen aus russischer Perspektive im Vordergrund – in erster Linie geht es um die Ukraine, in zweiter um Georgien. Und da könnte, wer in der russischen Haltung etwas Rationales erkennen möchte, argumentieren: Georgien hat 2008 (nach Spannungs-Eskalationen, an denen Russland nicht schuldlos war) den Krieg um Süd-Ossetien provoziert, mit einer Attacke auf die mittelgrosse Stadt Zchinwali – und wäre Georgien damals Mitglied der Nato gewesen, wäre der so genannte Bündnis-Fall eingetreten. Das heisst, dann hätten sich die Nato-Staaten mit dem damaligen Präsidenten Georgiens, Michail Saakashwili, solidarisieren müssen – und dann wäre der lokale Konflikt um Süd-Ossetien ausgeartet in einen Krieg zwischen Ost und West.
Und wie berechenbar ist jetzt, so könnten die Russen fragen, der ukrainische Präsident Selenskyi? Könnte nicht auch er sich darauf kaprizieren, um in der Region der Ostukraine oder um die (von Russland annektierte) Krim einen Zwischenfall zu inszenieren, der dann, wäre die Ukraine Nato-Mitglied, den Bündnisfall auslösen müsste?
Hat der Westen Russland betrogen?
Solche Unwägbarkeiten sind es anderseits, welche die Nato dazu bewogen haben, die Perspektiven für einen allfälligen Beitritt der Ukraine und Georgiens so vage zu halten, dass ein klarer Zeithorizont nicht erkennbar ist. Da das mit Sicherheit auch in Moskau so wahrgenommen wird, bleibt die Frage nach dem Warum des russischen Ultimatums umso offener. Nur: im Raum hängen bleibt ein zeitgeschichtliches Grundproblem, das nicht dadurch gelöst wird, dass westliche Regierungen pauschal sagen, es existiere nicht. Es lautet: Hat der Westen Russland jemals zugesagt, es werde keine Nato-Erweiterung nach Osten geben – und wenn ja, was wäre dann unter dem Begriff «Osten» gemeint? Wladimir Putin beruft sich ja immer wieder auf eine entsprechende «Verpflichtung» und sagt, der Westen habe Russland betrogen.
Um dieses Thema ist in den letzten Jahren viel publiziert und spekuliert worden, und immer blieben die Widersprüche ungelöst. Jetzt gibt es dazu, aufgrund einer akribischen Recherche, eine Antwort. Die US-amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte hat ein Buch verfasst, das die offenen Fragen klärt. Titel: «Not one inch». Es wird am 8.2. bei Yale University Press publiziert – der britische «Guardian» hat einen Vorabdruck analysiert. Parallel dazu führte der Journalist und Historiker Heiner Wember von der Körber Stiftung mit der Autorin ein Gespräch, das in schriftlicher Form vorliegt. Die wesentlichen Argumente, basierend auf diesen beiden Publikationen:
«Nothing of that sort will ever happen»
Der damalige US-Aussenminister, James Baker, versprach im Februar 1990 Michail Gorbatschew, die Nato würde sich nicht nach Osten erweitern. Am Tag darauf äusserte der deutsche Bundeskanzler, Helmut Kohl, die Nato werde sich auch nicht auf das Gebiet der DDR ausdehnen. In gleichem Sinn sprach am 17. Mai 1990 auch der damalige Generalsekretär der Nato. US-Präsident George Bush (Vater) jedoch konterte, Baker sei mit seiner Aussage zu weit gegangen. Er drängte darauf, dass dieses Thema schriftlich nicht erwähnt wurde – konkret zunächst nicht im Vertrag mit Russland vom September 1990 über die Wiedervereinigung Deutschlands. Der Vertrag erlaubte es der Nato sogar ausdrücklich, Truppen in «Ostdeutschland» zu stationieren. Im März 1991 jedoch sagte der britische Premier John Major, eine Ausdehnung der Nato in «Osteuropa» würde nie stattfinden («nothing of that sort will ever happen»).
Die Russen trauten diesen Aussagen nicht – 1993 schrieb Boris Jelzin dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, jegliche Ausdehnung der Nato nach Osten würde den Geist des Vertrags von 1990 verletzen. Dieses Schreiben schreckte die Verantwortlichen im US-State Department so auf, dass sie das deutsche Aussenministerium fragten, was davon zu halten sei – und erhielten die Antwort, Jelzins «Beschwerde» sei zwar formal unrichtig, aber man könne verstehen, dass der russische Präsident sich wegen des Themas Sorgen mache. Ebenfalls 1993 anderseits konzedierte Jelzin gegenüber Lech Walesa, Polen habe das Recht zum Nato-Beitritt. Und in der Vereinbarung mit der Nato im Jahr 1996 bekräftigte Russland dasselbe. 1997 jedoch, zur Zeit der Finalisierung der Nato-Russland-Grundakte, beschuldigte Russlands Aussenminister Primakow den Westen der «Doppelzüngigkeit» («double dealing»).
Nichts schriftlich fixiert
Es gab also Widersprüche auf beiden Seiten. Weder kann die russische Führung ein Recht geltend machen, anderen Ländern die Bündniswahl zu verweigern – noch kann der Westen behaupten, man habe Russland nie Zusagen gemacht, die Nato werde keine Mitglieder in Ost- oder Südosteuropa aufnehmen. Gesprächweise wurden solche Zusagen durchaus gemacht – aber die USA, in erster Linie Präsident Bush (Vater, Amtszeit von 1989 bis 1993) sorgten dafür, dass sie nirgendwo schriftlich fixiert wurden.
Warum akzeptierte Russland (in der Aera Jelzin) das? Die Historikerin Sarotte schlussfolgert, das Land sei damals wirtschaftlich extrem schwach gewesen – und Jelzin habe gehofft, massive Hilfe aus dem Westen zu erhalten. Deshalb habe er nicht auf dem Thema Nato-Erweiterung beharrt.