Wahltag, „Decision Day“, letzte Bilder aus dem Wahlkampf in der Nacht zuvor, aus Iowa und Wisconsin, letzte Umfragen, jüngste Prognosen. Das Wetter kalt, frühmorgens unter Null, und der arg gebeutelten Nordostküste droht weiteres Ungemach, ein Sturm, mit Regen und Schnee. Lange Schlangen vor den Wahllokalen bereits um sieben, die Wählerinnen und Wähler nervös, je nach Partei skeptisch oder siegesbewusst.
„Wählen ist nicht Pflicht, es ist ein Privileg“, ermahnt eine TV-Moderatorin ihre Landsleute: „Und nun die jüngsten Nachrichten zu diesem haarsträubenden Zwischenfall auf jenem Flugplatz, wo eine landende Piper das Dach eines vorbeifahrenden SUV wegrasiert hat.“ Wahl hin oder her: Die Welt dreht weiter. „The show must go on.“ Amerikanische Flaggen allenthalben, das Sternenbanner im Wind, die Hand aufs Herz, Amerika über alles. Insgesamt soll der Wahlkampf für das Weisse Haus und den Kongress sechs Milliarden Dollar oder 18 Dollar pro Kopf der Bevölkerung verschlungen haben. Halb so schlimm: Amerikaner kaufen Potato Chips für jährlich 7 Milliarden oder vergnügen sich an Halloween für acht Milliarden Dollar. Demokratie ist nicht billig, sie hat ihren Preis. Was nichts kostet, ist nichts wert.
Und von wegen Schicksalswahl, der Wahl zwischen einem Amerika, das zunehmend einer europäischen Sozialdemokratie gleicht, und einer Nation, die mehr Freiheit und weniger Staat möchte: Nichts werde sich ändern in Washington DC, prophezeit ausgerechnet Francis Fukuyama, jener Mann, der einst nach dem Fall des Kommunismus „das Ende der Geschichte“ prophezeit hat: „Zwar wäre es nett, die USA würden sich endlich entscheiden, was für eine Regierungsform sie wollen, aber es ist wenig wahrscheinlich, dass sie das am Wahltag tun.“
Wäre Amerikas Politik nur so renovationsfreudig, wie es dieser Tage die Hauptstadt ist: Washington DC reisst Strassen auf, saniert Sehenswürdigkeiten, lässt Grün spriessen. Das Oberste Gericht ist eingerüstet, ebenso der East Wing der National Gallery (welche die Ausstellung „Shock of the News“ zeigt); das Monument, Folge eines Erdbebens, ist für Besucher gesperrt und wird auf seine Statik hin überprüft. Die Mall zwischen Capitol und Lincoln Memorial ist zum Teil unzugänglich, weil der Rasen ersetzt und die Drainage verbessert werden, Einkaufszentren sind geschlossen in Georgetown oder Friendship Heights, sie sollen noch kundenfreundlicher, noch luxuriöser werden. Derweil verschwinden Washingtons Buchläden, einer nach dem andern. Sie waren mit ihren Cafés einst Oasen der Ruhe und Inseln der Seligkeit inmitten eines hektischen Alltags, ersetzt nun in einem Fall durch einen riesigen Nike Store: schneller, höher, stärker. Nike, heisst es, zahle in Georgetown exorbitante Miete: „Just do it“. Ende Jahr soll auch der Laden von „Barnes & Noble“ in der Union Station einer Erweiterung weichen. Es wird noch mehr Schnellimbissbuden jeglicher Provenienz, dafür weniger geistige Nahrung geben.
Politiker beider Parteien haben im jüngsten Wahlkampf unermüdlich Amerikas Einmaligkeit und Sonderrolle in der Welt bemüht. Von Niedergang, von „decline“, war keine Rede. Auch nicht von Klimawandel, von Einwanderungsreform, von Schusswaffenkontrolle, von der Zukunft des Supreme Court, vom Krieg gegen die Drogen, von der Kriminalität und den überfüllten Gefängnissen. Von Europa war auch nur kurz die Rede, von Afrika gar nicht. Mit einer Ausnahme: In der dritten Fernsehdebatte zum Thema Aussenpolitik brachte Mitt Romney zur allgemeinen Überraschung Mali aufs Tapet und zwar gleich zweimal. Viele Amerikaner dürften nur Malia kennen, Barack Obamas 14-jährige Tochter.
Währenddessen zeugen in Washington DC etliche Gedenkstätten vom „exceptionalism“ der amerikanischen Nation, „der Hoffnung der Welt“ (Mitt Romney). Es sind die Memorials für frühere Präsidenten, Kriege und Pioniere, mal schlicht und simpel, mal grossspurig und bombastisch. Ein Memorial aber sollte der Besucher in diesen Tagen auf keinen Fall verpassen, wenn er sich bewusst werden will, was nationale Hybris und verfehlte Politik bewirken können.
Es ist, im Constitution Garden in der Nähe des Lincoln Memorial, Maya Lins Vietnam Veterans Memorial, jene 75 Meter breite und maximal drei Meter hohe Gedenkstätte aus schwarzem, indischem Stein. In den Gabbro sind in chronologischer Reihenfolge die 58‘195 Namen, ohne Rang, jener Soldaten eingraviert, die in den 60er- und 70er-Jahren im Vietnam-Krieg gefallen sind.
Schulklassen eilen, essend und trinkend, eher achtlos am Memorial vorbei, während andere, mutmasslich Veteranen oder Angehörige, stumm und mit Tränen in den Augen vor der schwarzen Wand stehen. Mit ihren Fingern berühren sie einen der Tausenden von Namen, als wäre über all die Zeit hinweg ein Kontakt mit den Verstorbenen noch möglich. Und wenn sie den gesenkten Kopf heben, sehen sie sich im dunkel glänzenden Stein reflektiert, Lebende und Tote vereint, ohne Unterschied von Herkunft oder Status.
Das Vietnam Veterans Memorial ist in seiner stillen Anspruchslosigkeit eine zutiefst demokratische Gedenkstätte. Und da das Memorial weder anklagt noch prahlt, sollte es für jeden Politiker Vorbild sein, wie heute öffentlicher Diskurs auch noch möglich wäre: auf der Basis von Gleichheit - der Chancen und Rechte zum einen, der Pflichten und Opfer zum andern. Das war einst das Versprechen des amerikanischen Traums. Doch dieser Traum wird für viele Amerikaner zunehmend unerreichbar, es sei denn, sie besinnen sich an der Urne der Stärken, welche die Nation einst zu Recht gross gemacht haben.
„Die Zukunft hat bereits begonnen“, verkündet in der Nacht vor der Wahl ein Schriftzug unter der Neon-Säule eines Diners an der Connecticut Avenue in Washington DC: „Reiche die Hand zum Ausgleich“. Was, der Dunkelheit wegen, nicht mehr zu sehen ist: ein grosses, schwarzweisses Schild an der Hauswand dahinter. Es verkündet: „There is no way like the American way.“