In Tunesien hat im Oktober die Vorwahlperiode begonnen. Die Wahlen sind für den 23. Oktober vorgesehen. Eine Verfassungsversammlung von 218 Mitgliedern wird gewählt werden. Sie soll innerhalb eines Jahres die neue demokratische Verfassung Tunesiens ausarbeiten. Unklar bleibt, über welche weiteren Kompetenzen sie verfügen wird. Kann sie Gesetze verabschieden oder nicht? Im Vorfeld der Wahlen vermochten die Parteien sich in dieser Frage nicht zu einigen.
Es kam jedoch zu einer Einigung darüber, dass der neue provisorische Staatspräsident von dieser Versammlung gewählt werden wird. Sobald sich die Delegierten mehrheitlich auf eine Person einigen, wird sie dieses Amt übernehmen, und der bisherige provisorische Präsident, Fouad Mezbaa, der zu den Würdenträgern des Regimes Ben Alis gehört, wird zurücktreten.
1300 mal drei Minuten
Unter der neuen Verfassung wird dann, in einem Jahr, auch eine neue Regierung und ein Staatspräsident gewählt werden. Ob dies eine präsidiale oder eine parlamentarische Demokratie mit einem bloss zeremoniellen Staatspräsidenten werden soll, ist umstritten. Die Verfassungsversammlung wird darüber zu entscheiden haben.
In Tunesien sind über 100 Parteien zugelassen. 1300 Bewerber, teils auf Parteilisten teils Unabhängige, kandidieren für die 218 Sitze. Das bedeutet, dass die Wähler kaum eine Übersicht über das gesamte politische Panorama zu gewinnen vermögen. Umsoweniger als politische Propaganda seit September verboten ist.
Die Kandidaten erhalten je drei Minuten in den öffentlichen Medien, um sich vorzustellen. Jeden Tag sind dafür drei Stunden in den Programmen reserviert. Dies bedeutet einen Marathonlauf von 1300 mal drei Minuten, oder umgerechnet 21 Tage lang jeden Tag ein Dreistundenprogramm mit je 60 Kandidaten. Daraus wird niemand klug werden!
Der "tunesische Berlusconi"
Das Verbot für politische Propaganda kam im September zustande. Es geht auf eine besondere Entwicklung zurück. Eine der vielen Parteien wird von dem Geschäftsmann Slim Riahi aufgezogen. Sie heisst UPL (Union Patriotique Libre). Riahi ist ihr Präsident, kandidiert aber selbst nicht für die Verfassungsversammlung. Er ist der Sohn eines tunesinischen Richters, der seit 1980 im Exil in Libyen lebte, und er hat dort eine geschäftliche Karriere gemacht. Er wurde reich mit einer Firma für Dienstleistungen auf den Ölfeldern. Er promovierte seine Partei mit einer aggressiven und professionell aufgezogenen Werbekampagne. Neben seiner Partei haben nur wenige andere Geld für Werbekampagnen. Nur grade die PDP (Parti Démocratique Populaire) und der Block Ettajdid (was Fortschritt bedeutet) hatten ebenfalls die Mittel für Werbung. Doch auch sie wurden durch die Kampagne Riahis ausgestochen.
Als der Unternehmer dann auch noch bekannt gab, er wolle versuchen, einen Anteil an dem ältesten und wichtigsten Medienhaus Tunesiens, Dar as-Sabah, zu erwerben, wurde heftige Kritik an ihm und an seiner Partei laut. Die vielen Rivalengruppierungen fragten nach, ob Riahi gedenke, der Berlusconi Tunesiens zu werden.
Selbstregulierung der Parteien mit Hilfe Ben Achours
Die "Unabhängige Hohe Rat für das Erreichen der Ziele der Revolution" schritt ein. In diesem sehr verdienstvollen Rat arbeiten die 12 als die wichtigsten geltenden Parteien paritätisch verteilt unter dem Vorsitz des bekannten und angesehenen Juristen, Yadh Ben Achour, zusammen, um den minimalen Konsensus über die Spielregeln für die Wahlen und das Vorgehen während der Übergangszeit herzustellen. Dies war eine Voraussetzung, die es erst erlaubte, die Wahlen durchzuführen.
Der hohe Rat erliess ein Verbot für politische Werbung, um die Chancengleichheit der Parteien wieder herzustellen. Riahis UPL und die PDP Najib Chebbis erhoben Klage gegen dieses Verbot, doch zunächst, bis über die Klage entschieden ist, halten sie sich daran.
Profilierungsprobleme
Das Verbot, das nun für die gegenwärtige Kampagne gilt, ist aus verständlichen Gründen erlassen worden. Doch es hat seine negativen Seiten. Ohne Wahlpropaganda wird die Wahl für die Bürger noch unübersehbarer und so technokratisch, dass sie für die grosse Zahl kaum mehr verständlich sein wird. Das Vorhaben der Wahlkommission, jegliche Finanzierung der Parteien aus dem Ausland zu verbieten und sie im Inland unter eine Höchstgrenze zu stellen, scheiterte am Widerstand der Parteien.
Unter den vielen Parteien gibt es eine Gruppe von nicht weniger als 47 Kleinparteien, die alle darauf ausgehen, die Nachfolge der verbotenen Staatspartei Ben Alis, RDC (Rassemblement Démocratique Constitutionel) anzutreten und das wohlhabende Wahlpublikum der "ci-devants" d.h.der bisherigen Machthaber, anzusprechen. Diese Aufsplitterung dürfte bewirken, dass die Politiker dieser Richtung höchstens als nicht parteigebundene Einzelgänger in die Verfassungsversammlung werden eindringen können.
Viele Kandidaten, geringer Bekanntheitsgrad
Das Werbeverbot, und auch schon vor ihm die Grosszahl der Parteiformationen, dürften sich dahin auswirken, dass die schon aus der Ben Ali Zeit bekannten Parteien, die über geläufige Namen und allgemein bekannte Führungspersönlichkeiten verfügen, am ehesten Chancen haben, grössere Fraktionen in die Versammlung zu bringen. Dies sind einerseits die unter Ben Ali als zahme Oppositionsparteien geduldeten Gruppierungen, die alle von altbewährten Politikern angeführt werden. Zu nennen sind die Partei des Juristen Najib Chabbi, PDP(Parti Démocratique Populaire), eines scharfen Kritikers des abgesetzten Ben Ali, der auch mehrfach im Gefängnis sass; die Partei "Ettajdid" (Erneuerung) von Ahmed Ben Ibrahim; die FDTL (Fédération Démocratique du Travail Libre) von Mustafa Ben Jaafar; sowie zwei Kommunistische Parteien etc.
Ebenso bekannt oder noch bekannter sind die von Ben Ali verfolgten aber trotz und teilweise wegen der Verfolgungen allgemein bekannten Parteien. Von ihnen ist die weitaus wichtigste Ennahda (Renaissance), die sich selbst als islamistisch bezeichnende Partei Rached Ghannouchis, deren Mitglieder lange Jahre, oft Jahrzehnte, in den Gefängnissen verbracht haben. Ghannouchi selbst lebte im Exil in London. Die ersten Ränge auf seinen Parteilisten nehmen die bisherigen politischen Gefangenen ein. Die zweite Exilpartei von Gewicht ist jene des Arztes Moncef Marzouki CPR (Congrès pour la République), links von der Mitte. Ghannouchi und Marzouki sind beide kurz nach der Revolution nach Tunesien zurückgekehrt.
Ennahda als Hauptpartei ?
Viele Beobachter glauben, dass Ennahda als die erste Formation aus den Wahlen hervorgehen werde. Doch zahlreiche Tunesier fürchten auch, dass die Partei Ghannouchis die Macht monopolisieren und dem Land eine intolerante, eng islamistische Herrschaft aufzwingen könnte. Ghannoushi ist sehr bemüht, solche Vorstellungen zurückzuweisen. Er betont regelmässig, dass er eine echte Demokratie mit Machtwechsel für die jeweilige Mehrheit anstrebe, freilich innerhalb "islamischer Leitplanken", welche Tunesien angesichts der unter Ben Ali bestehenden Korruption, die noch keineswegs überwunden sei, dringend brauche. Ghannouchi unterstreicht sogar, dass die positiven Errungenschaften Tunesiens in der Frage der Gleichberechtigung der Frauen "unbedingt zu bewahren" seien. Doch seine Kritiker bleiben misstrauisch.
Sie sehen solche Aussagen als blosse Wahltaktik an, hinter der sich finsterere Absichten verbergen. Dem ist entgegenzuhalten, dass Ghannouchi schon im Exil für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie eingetreten ist, und sie im Gegensatz zu manchen anderen islamistischen Autoritäten auch theologisch zu begründen und zu verteidigen sucht.
Ungewisse Umfragen
Umfragen sind nun, in der Vorwahlperiode, ebenfalls nicht mehr erlaubt. Die letzten Versuche, die Wahlabsichten der Tunesier zu ergründen, die im August durchgeführt wurden, waren wenig konklusiv, weil sie feststellten, dass gegen 60 Prozent der Wähler noch unentschieden zu sein schienen oder gar nicht wussten, dass es politische Parteien gäbe. Unter den bereits gefestigten Ansichten lag Ennahda mit rund 20 Prozent der geäusserten Meinungen an der Spitze. Andere Parteien erzielten geringere Resultate. Die PDP Chabbis erhielt regelmässig die zweitbesten Resultate mit rund 10 Prozent der Wählerabsichten. Die anderen bekannteren folgten mit 5 Prozent oder darunter bis hinab zu 1 Prozent.
Die grosse Enttäuschung der Demonstranten
Die Wahlprognosen ergaben auch, dass sehr viele Tunesier, besonders im verarmten und vernachlässigten Inneren des Landes, von der Revolution enttäuscht und gegenüber den Wahlen skeptisch und gleichgültig geworden waren. Ihr Refrain war: "wir hatten Opfer erbacht für die Revolution und nachher hatte sich nichts verändert!" Sie klagten vor allem darüber, noch immer keine Arbeit zu haben. Die Polizei behandle sie immernoch gleich brutal. Die Politiker seien nur auf ihr eigenes Fortkommen bedacht. Man habe anderes zu tun, als zu wählen, nämlich dafür zu sorgen, dass man etwas zu essen finde. Sehr viele der grossen Massen von Demonstranten, die an der Revolution im vergangenen Dezember mitwirkten, waren in erster Linie auf die Strasse gezogen, weil sie Arbeit und ein menschenwürdiges Dasein anstrebten. Es war von vorneherein klar, dass diese Anliegen nicht sofort von der Revolution bedient werden konnten. Doch dieser Umstand ändert nichts an der Enttäuschung all der Menschen, denen in erster Linie daran lag und weiter daran liegt, ihre unerträgliche wirtschaftliche Lage zu verbessern.
Arbeitsplätze das heikelste Thema
Die Parteien sprechen in ihren Programmen die dringende Notwendigkeit an, mehr Arbeitsstellen zu schaffen, vor allem für die Jungen und die einigermassen Ausgebildeten. Doch die Parteien wissen auch, dass dies im besten Falle ein langfristiger Prozess werden wird. Ennahda hat ein 50 seitiges Parteiprogramm veröffentlicht und im September vorgestellt. Darin heisst es, die Partei hoffe, bis 2016 500 000 Arbeitsplätze zu schaffen. Die Partei des oben erwähnten Unternehmers Slim Riahi (UPL) lägt Pläne vor, wie Arbeitsplätze geschaffen werden könnten, darunter ein mögliches internatonales Zentrum für finanzielle Dienste, bedeutende Anlagen in Landwirtschaft und technologischer Entwicklung.. Doch keine Partei ist in der Lage, der grossen Masse der enttäuschten Träger der Revolution das zu verschaffen, worauf sie eigentlich hofften, als sie zu vielen Tausenden auf den Strassen demonstrierten: "Morgen schon Arbeitsplätze für Alle ! "