Ich gebe zu, ich gehöre zu jenen, die der «Herald Trib» nachtrauern werden. Nicht zuletzt deswegen, weil meine Lieblingskrawatte obsolet geworden ist. Die Seidenkrawatte mit den kleinen, goldenen «IHT»-Logos auf dunkelblauem Grund. Sie war mir Ende der 70er-Jahre in Zürich überreicht worden, von niemand Geringerem als vom Herausgeber und vom Chefredaktor des Blattes.
Die Bosse als Marktforscher unterwegs
Leider nicht journalistischer Verdienste wegen, sondern lediglich dem Umstand geschuldet, dass ich mich für ein Gespräch mit den zwei Vertretern der «Herald Tribune» zur Verfügung gestellt hatte. Die beiden wollten, mehr oder weniger inkognito, herausfinden, was ein Durchschnittsleser über ihr Produkt dachte und ich, damals bei der «Weltwoche» beschäftigt, hatte mich zu einem Interview in Zürich bereit erklärt.
Viel ist mir von jenem Gespräch nicht in Erinnerung geblieben – ausser die überrasche Reaktion von Lee Huebner und Mort Rosenblum nach meiner Antwort auf die Frage, was ich in der «Trib» jeweils als Erstes lese. «Die Comic Strips», sagte ich umgehend, bemüssigte mich aber zu erklären, dass ihre Zeitung jeweils die vierte oder fünfte sei, zu der ich morgens auf der Redaktion griff, also bereits Kür, nicht mehr Pflichtlektüre.
Natürlich, räumte ich ein, würde ich auch die Nachrichtenseiten, die Kolumnen und die Meinungsbeiträge des Blattes lesen und mir die tägliche Karikatur ansehen. Mein Lieblingskolumnist sei der unvergleichliche, inzwischen 88-jährige Russell Baker aus Baltimore, dessen fein ziselierte Beiträge auch in der «New York Times» erschienen. Lediglich bei den Börsenkursen, den Modebeiträgen und den Restaurantkritiken, sagte ich, müsse ich passen. Eine «IHT»-Krawatte kriegte ich trotzdem.
Eine Zeitung, die geliebt wurde
Russell Baker hat einst geschrieben, Reporter würden vom Unglück der Welt profitieren: «Deshalb empfinden sie häufig unanständigen Lustgewinn bei Ereignissen, die den Rest der Menschheit verstören.» Verstörend ist das Ende der «International Herald Tribune» zwar nicht. Sie soll ja wieder auferstehen, aktueller, besser, schöner denn je, und laut Ankündigung des Verlages «eine wahrhaft globale Sensibilität» zeigen. «Unerwartete Berichterstattung» soll das neue Produkt liefern, Reportagen, Kommentare und Multimedia-Beiträge, «die sich sonst nirgendwo finden.»
Doch melancholisch stimmt einen das Verschwinden des Blattes trotzdem. James Gordon Bennett Jr. hatte es 1887 in Paris eher aus Langeweile als Ableger seiner «New York Herald Tribune» gegründet, jener eigenwillige Verleger, der seine Zeitungen gelegentlich in einem roten Mercedes-Rennwagen ausfuhr. Art Buchwald, von 1949 bis 1962 in Paris als Humorkolumnist domiziliert, sagte einst, die «Herald Trib» sei die einzige Zeitung, die er je geliebt habe.
Der «Paris Herald» hatte Ende des Ersten Weltkriegs eine Auflage von 350’000 Exemplaren und wurde auch von amerikanischen Soldaten gelesen, die in Europa kämpften. Doch nach Bennetts Tod 1918 verlor die Zeitung viel von ihrer früheren Ausstrahlung und wurde zum Sprachrohr reicher Amerikaner, die entweder als Expats in Paris lebten oder als Touristen die französische Hauptstadt besuchten. Im Gegensatz zu seiner Konkurrentin, der 1917 gegründeten Pariser Ausgabe der «Chicago Tribune», verschlief der «Paris Herald» weitgehend jene aufregenden Entwicklungen im Bereich der Kunst, die sich am linken Ufer der Seine damals abspielten.
Ein Blatt für die Montparnasse-Gesellschaft
Waverley Root, ein Mitarbeiter beider «Tribunes», erinnerte sich, dass die Bewohner des Montparnasse eine eigene Gesellschaft kreiert hätten, die eine Zeitung brauchte, um ihre Ideen und ihren Lebensstil zu widerspiegeln: «Der (Paris) ‚Herald‘ schaffte das nicht, aber die (Chicago) ‚Tribune‘ konnte das.» 1934 allerdings verkaufte der Verleger der «Tribune», der legendäre Colonel Robert R. McCormick, sein Blatt an den «Herald»: Die «Paris Herald Tribune» war geboren. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs flirtete die Zeitung dann kurz mit dem Faschismus.
1967 wurde die «Paris Herald Tribune» zur «International Herald Tribune», nachdem «New York Times» und «Washington Post» das Blatt übernommen hatten. Die ungewöhnliche «Cohabitation» zweier misstrauischer Konkurrenten dauerte bis 2003, als die «Times» die «Post», begleitet von allerlei unschönen Nebengeräuschen, auskaufte. Nun soll die «International New York Times» dem Mutterhaus helfen, seine globale Reichweite zu steigern und vor allem in Afrika und Asien neue Leser zu gewinnen. Die «IHT» hatte zuletzt eine Auflage von 242‘000 Exemplaren.
Deadline-Glocke und Druckerschwärze
Anfang der 70er-Jahre befand sich die Redaktion der Zeitung noch in einem eher schmuddeligen Gebäude an der 21 Rue de Berri unweit der Champs-Elysées, mit abgeblätterter Farbe an den Wänden und abgewetzten Treppenstufen. Im Keller lärmten die Druckmaschinen. «Die Möbel waren meist kaputt, alle Schreibmaschinen hatten bessere Tage gesehen, und die ganze Redaktion stank nach Rauch – Zigaretten, Zigarren und Pfeifen», erinnert sich Jeffrey Robinson, der damals als junger Journalist («the kid») für das Blatt zu schreiben begann: «Alle schienen gleichzeitig lauthals zu rufen – meistens zu fluchen, um genau zu sein – und der Redaktionsschluss rückte stets bedrohlich näher. Ich erinnere mich vage an eine ‚Deadline‘-Glocke. Die Schreibmaschinen klapperten und die Telefone schellten. Das Ganze tönte, wie eine Redaktion tönen muss.»
Meistens hätte man ihn nach Redaktionsschluss an der Rue de Berri nicht mehr gebraucht, erzählt Robinson: «Manchmal aber, an wirklichen guten Abenden, nahm mich jemand in den Keller mit, um die ersten Exemplare von der Druckmaschine rollen zu sehen. Sie liessen mich meine eigene Zeitung vom Förderband schnappen und dort war sie: Meine Story, immer noch warm, wie eine frisch gebackene Baguette. Und das Beste: Ich hatte Druckerschwärze an den Händen.»
Später dann zügelte die «International Herald Tribune» von der Rue de Berri in ein neues Hauptquartier in Neuilly-sur-Seine: «Die neue Redaktion waren offen, mit einigen Privatbüros hinter Glaswänden entlang der Seite des Raumes, und Alkohol war nirgendwo in Sicht. Jeder war wie all die andern in ihren Arbeitskabinen. Die Redaktion hatte die tödliche Ausstrahlung eines Versicherungsbüros.»
Auch Schreibmaschinen, berichtet Jeffrey Robinson, habe es in Neuilly-sur-Seine keine mehr gegeben, und statt das Manuskript zu einem Redaktor mit einer Gin-Fahne zutragen, habe er auf dem Keyboard eines Computers nur noch einen Knopf drücken drucken müssen: «Ich sah meinen Artikel nie mehr, bis er am folgende Morgen auf der letzten Seite des Blattes wieder auftauchte. Es fühlte sich schlicht nicht richtig an. Es gab keine Druckerschwärze mehr.»
«New York Times» auf Kernbereich konzentriert
Verstandesmässig, schliesst Robinson, könne er nachvollziehen, warum die «New York Times» die «IHT» eines sanften Todes habe sterben lassen. Er werde das der «Times» aber nie verzeihen: «Sie werden meine Zeitung begraben Die ‚International Herald Tribune‘ ist tot. Und was ist, wenn ich nur einer von vielen ihrer Verehrer war? Mon amour, we’ll always have the rue de Berri.»
Wenn diesen Monat der Verkauf des «Boston Globe» über die Bühne geht, ist die «New York Times» als Unternehmen nur noch in ihrem Kernbereich tätig: einer einzigen Zeitung mit all ihren Ablegern. Die NYT Company beschäftigt künftig noch rund 3’500 Angestellte, weniger als die Hälfte der Mitarbeiter, die noch vor zwei Jahren für sie tätig waren. Heute ist das Unternehmen fast viermal kleiner als vor elf Jahren. Nach wie vor aber stützt es sich bei den Werbeeinnahmen zu drei Vierteln auf Erträge aus dem Print und zu weniger als einem Viertel auf solche aus dem Digitalbereich. Unter den Abonnenten kommen 84 Prozent aus dem Print. 2012 macht die «New York Times Company» einen Gewinn von 133 Millionen Dollar und kann sich derzeit auf eine gut gefüllte Kriegskasse von fast einer Milliarde Dollar stützen.
Erfolgreiche Qualitätsstrategie
Indes steigt die Auflage der «New York Times». Die Digitalausgabe der Zeitung hat inzwischen rund 700‘000 Abonnenten. Die Sonntagsausgabe (Print und Online) hat heute 57 Prozent mehr Leser – 2,3 Millionen – als noch vor fünf Jahren. Die sechs Ausgaben unter der Woche haben im selben Zeitraum um 73 Prozent auf 1,9 Millionen Leser zugelegt. Dümpelte der Aktienkurs des Unternehmens 2009 noch unter $ 4, so stand er vergangene Woche bei $ 12,50.
Die «International New York Times», die vor allem Leser im Digitalbereich anziehen soll, ist Teil einer Strategie des Verlags, um auch in Zukunft zu wachsen. Chefredaktorin Jill Abramson jedenfalls hält den eingeschlagenen Kurs für erfolgversprechend: «Die Strategie der ‚New York Times‘ ist es, seit ich dort arbeite, gewesen, dass sich journalistische Qualität auszahlt.»
Für Abramson verkörpert die internationale Ausgabe des Blattes mit Büros in New York, London, Paris und Hongkong die lang gehegte Vorstellung einer «globalen Redaktion, die rund um die Uhr arbeitet». Die neue Zeitung, sagt sie, soll «der internationale Lieferant qualitativ höchststehender Nachrichten und Informationen werden. So einfach. Wir sind die Besten, und so wird jedermann von uns was wollen.» Verantwortliche der «New York Times», schrieb deshalb der «Guardian», würden sich nicht durch Bescheidenheit auszeichnen. Auch die Chefredaktorin nicht.