Bei der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), einem neuen Debattierklub für europäische Staats- und Regierungschefs, macht die Schweiz voll mit. Doch dort, wo in Europa auch für unser Land relevante Entscheide gefällt werden, bei EU und Nato, ist die Schweiz nach wie vor nicht Mitglied.
Am 5. Oktober 2023 hat im südspanischen Granada das nun schon dritte Treffen europäischer Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) stattgefunden. Dieses Format geht auf eine Idee des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zurück, die er im Mai 2022 vor dem EU-Parlament in Strassburg vortrug.
Nachdem der russische Angriff auf die Ukraine weitere Beitrittsanträge aus Osteuropa ausgelöst hatte – unter anderem von der Ukraine selbst – sagte Macron in seiner Rede: «Die Europäische Union kann aufgrund ihres hohen Grades an Integration und ihrer ehrgeizigen Ziele kurzfristig nicht das einzige Mittel sein, den europäischen Kontinent zu strukturieren.» Es sei die historische Pflicht der EU, über eine geeignete Organisation des Kontinents nachzudenken und den Beitritt nicht als einzige Antwort anzusehen.
Macron schlug deshalb die Schaffung einer «Europäischen Politischen Gemeinschaft» vor. Diese neue Organisation – eine Art Konföderation – würde es europäischen demokratischen Staaten, die das Wertefundament der EU teilen, ermöglichen, einen neuen Raum der politischen Zusammenarbeit zu finden in Bereichen wie Sicherheit, Energie, Verkehr, Investitionen, Infrastruktur oder Personenverkehr. Sich dieser Gemeinschaft anzuschliessen, müsste nicht zwangsläufig zu einem EU-Beitritt führen, genauso wie sie auch jenen, die die Europäische Union verlassen haben, nicht verschlossen bliebe. Macron verstand, dass die EU angesichts der russischen Aggression in Europa ein Forum zum Austausch auf höchster politischer Ebene brauchte, das über sie selbst hinausreichte.
Illusterer Klub mit schwierigen Mitgliedern
Zur EPG gehören zurzeit 47 Staaten – die 27 EU-Länder und die Resteuropäer von Albanien über die Schweiz bis zum Vereinigten Königreich. Nicht dabei sind Russland und Weissrussland. Lupenreine Demokratien, Friedensförderer und Rechtsstaatverfechter sind auch so nicht alle. In der EU bereiten diesbezüglich Polen und Ungarn Sorgen. Mitglied in der EPG ist zudem Aserbaidschan, das eben in einem Krieg gegen Armenien (ebenfalls Mitglied) die Region Berg Karabach annektiert hat. Auch Serbien ist dabei, das im Konflikt mit Kosovo (ebenfalls Mitglied) derzeit wieder für negative Schlagzeilen sorgt. Schliesslich gehört auch die Türkei zum Klub trotz ihres autokratischen Regimes von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Die Treffen der Staats- und Regierungschefs der EPG finden halbjährlich statt – einmal in einem EU-Land, einmal ausserhalb der EU. Die Zusammenkünfte haben informellen Charakter; gemeinsame Beschlüsse oder eine Abschlusserklärung gibt es keine. Auf der Agenda stehen jeweils Diskussionen zu aktuellen Themen. In Granada gab es drei Arbeitsgruppen zu den Bereichen Digitalisierung, Energie/grüner Umbau und Multilateralismus/Geostrategie.
Daneben kommt es zu zahlreichen bilateralen Treffen zwischen Staats- und Regierungschefs. So traf etwa Bundespräsident Alain Berset, der die Schweiz in Granada zusammen mit Staatssekretär Alexandre Fasel vertrat, Frankreichs Präsidenten Macron, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Ministerpräsidenten von Luxemburg, den Niederlanden, Irlands und Albaniens sowie die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Berset bezeichnete denn auch die EPG als sehr nützliches Format.
Abwesend, wo es wirklich zählt
In der EPG ist die Schweiz also voll dabei. Da diese aber wie gezeigt bisher kaum mehr als ein Debattierklub ist, bringt das nicht viel. Anders verhält es sich mit der EU. Bei ihr – der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Organisation Europas – ist die Schweiz nicht Mitglied. Auch der Nato, dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis, gehört die Schweiz nicht an. Die Nato ist die wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische Organisation Europas.
Staats- und Regierungschefs, Minister, Diplomaten, Regierungsbeamte und Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten dieser beiden Staatenbündnisse treffen sich in hohem Rhythmus, diskutieren Themen der Aktualität und fassen Beschlüsse dazu. Von diesem regelmässigen Austausch sind Vertreter der Schweiz ausgeschlossen. Sie können – sieht man von ein paar wenigen Ausnahmen ab – nicht mitreden, wenn in den Gremien von EU und Nato Entscheidungen vorbereitet werden. Und sie können überhaupt nirgends mitentscheiden. Mit andern Worten: Die Schweiz ist in den beiden wichtigsten Organisationen Europas weitgehend isoliert und ohne Stimme.
Eigentlich ein unhaltbarer Zustand
Das ist umso problematischer, als das, was EU und Nato tun, weit über das Gebiet ihrer Mitgliedstaaten hinaus Wirkung hat. Auch die Schweiz ist betroffen. So übernimmt sie seit über dreissig Jahren regelmässig und bewusst EU-Recht, um Nachteile ihrer Einwohner und Unternehmen im Verkehr mit der Europäischen Union zu vermeiden. Dieser Nachvollzug hat beachtliche Ausmasse erreicht. Wissenschaftlichen Studien zufolge sollen zwischen 40 und 60 Prozent des schweizerischen Rechts direkt oder indirekt von EU-Recht beeinflusst sein. Damit hat die Schweiz gemäss dem an der Universität Zürich lehrenden Europarechtler Matthias Oesch durchaus wichtige Teile ihrer Rechtssetzung faktisch an die EU delegiert. Das ist ein unhaltbarer Zustand für ein Land, das grossen Wert auf seine Souveränität legt.
Auch von den Tätigkeiten der Nato ist die Schweiz betroffen. Was diese in Sachen Verteidigung tut oder lässt, beeinflusst auch die Sicherheit der Eidgenossenschaft. Mitten in Nato-Gebiet gelegen, profitiert die Schweiz vom Schutzschirm, den das Militärbündnis über Europa aufgespannt hat. Das ist wichtig, denn das Land könnte sich im Fall eines militärischen Angriffs kaum lange selbst verteidigen.
Doch statt in der EU und in der Nato voll mitzumachen und die Zukunft Europas mitzugestalten und mitzuentscheiden, begnügt sich die Schweiz mit Kooperationen und bilateralen Verträgen. Immerhin will sie diese ausbauen. Doch auch das ist immer noch zu wenig für ein Land, das mitten in Europa liegt und mit diesem kulturell, wertemässig und wirtschaftlich aufs Engste verbunden ist.