Drei Wochen vor den eidgenössischen Wahlen ist es höchste Zeit, das Spiel der politischen Parteien und deren personellen Aushängeschildern etwas zu durchleuchten.
Mehr Kandidaten und Kandidatinnen denn je bewerben sich auf mehr Listen denn je. Ist das nun ein quantitativer Rekord oder ein qualitativer Lichtblick? Bleibt alles beim Alten oder werden dringende Problemlösungen weiterhin durch die unzeitgemässe Polarisierung blockiert? Sind politische Parteien überhaupt noch zeitgemäss?
Ein Wahlkampf zum Gähnen
Die Welt verändert sich in raschem Tempo. Die vergangene Legislatur war geprägt von unerwarteten, äusseren Einflüssen. Da ist die Klimakrise, noch immer von unbelehrbaren Leugnern verniedlicht. Dann die Pandemie, in deren Folge eidgenössisches Notrecht und persönlich abgedriftete Menschen für geteilte Aufregung sorgten. Nicht genug: Der Ukraine-Krieg «überfiel» unser Land – auf «Undenkbares» völlig unvorbereitet – und hinterlässt eine verunsicherte Nation mit tief gespaltenen Neutralitätsinterpretationen. Zu schlechter Letzt: Untergang der Credit Suisse – ein einst stolzes Markenzeichen der Schweiz kollabiert, vernichtet, als Folge helvetischen Dilettantismus’.
Wie hat sich die schweizerische Politik gleichzeitig verändert? Hat sie sich überhaupt? Gibt es Anzeichen von Reformdruck, von neu geformten Mehrheiten, die darangehen, längst überfällige «Baustellen» des Landes endlich zu sanieren? Haben die politischen Parteien Rezepte entwickelt, um die Reformresistenz der Schweiz zu durchbrechen? Weltweit ist Grundsätzliches ins Wanken gekommen – wie reagierten National- und Ständerat darauf? Unbeantwortete Fragen über Fragen.
Als wäre nichts geschehen, verläuft auch der bisherige Wahlkampf wie immer: persönliche Lobpreisungen in Inseraten, medial vermittelten, schön gefärbten Persönlichkeitsbildern, stereotyp lächelnden Portraits auf Plakaten im Weltformat, inhaltsleeren Statements in Life-Sendungen auf Radio/TV. Grosse Teile unserer Jugend haben sich längst abgewandt von den vergangenheitsgeprägten Vorstellungen aller Beteiligten. Kein gutes Zeichen für eine direkte Demokratie, stolz auf ein erfolgreiches politisches Vermächtnis.
Politische Parteien: permanenter Kampf anstelle zukunftsfähiger Lösungen
Die Welt hat sich auch für sie verändert – die Parteispitzen. Sie, die hauptsächlich zuständig sind für einprägsame Wahlslogans und erfolgversprechende Fokussierung auf aufwühlende Wahlthematik: Welchen Einfluss haben die wahrlich epochalen Umwälzungen auf dieser Welt auf ihre Zielsetzungen? Nach wie vor köchelt jede politische Partei ihr Süppchen, um möglichst viele Likes begeisterter Anhänger zu generieren. Mit dieser Fokussierung auf einen kleinen Teil des Ganzen – der nationalen Politik – übersehen sie den grundlegenden Interessenwandel des Stimmvolkes, der in den letzten 50 Jahren stattgefunden hat. Eine Schweizerin, ein Schweizer ist nicht mehr wie früher eingefleischte Parteigängerin oder -gänger. Sie sind auch nicht mehr ausschliesslich Links- oder Rechtsbefürwortende, einst als Proletariat oder Kapitalist definiert. Der moderne Mensch ist vielseitig orientiert, flexibel in der Beurteilung der Aktualität, einmal zugänglich für eine sozialistische Idee, ein anderes Mal für ein liberales Anliegend optierend.
Der permanente Kampf populistischer oder staatsgläubiger Parteidirigenten übersieht das grosse Thema einer erfolgreichen, helvetischen Politik der Zukunft: mutige, der Zeit vorauseilende Kompromisse ermöglichen als Brücke zu innovativen Lösungen.
Die Mitte: die grosse Unvollendete
Ein kurzer, wichtiger Blick zurück: Solche Brücken zu bauen war Gottlieb Duttweilers (1888–1962) Ziel gewesen, jener einzigartigen Pionierperson, die der Schweiz die 1925 gegründete Migros (und später den «Duttipark» in Rüschlikon) schenkte. «Dutti» hatte 1942 seine Wochenzeitung «Wir Brückenbauer» lanciert, nachdem er schon früher mit dem von ihm gegründeten «Landesring der Unabhängigen» (Parteiname) sein fortschrittliches Bild zwischen den politischen Parteipolen verfolgt hatte. Bezeichnenderweise wurde der «Brückenbauer» mit einer beachtlichen Auflage von über 200’000 Exemplaren 2004 von den Migros-Managern in «Migros-Magazin» umbenannt, jenen Managern, die sukzessive auch viele weitere Anliegen und Erfolgsrezepte des Migros-Gründers vom Tisch wischten.
Und so sucht die Schweiz noch immer nach Brückenbauern zwischen den politischen, gleichzeitig spaltenden Politikerinnen und Politikern des linken und rechten Rands der Politszene, die keine Kompromisse zustande bringen. Das Land vermisst auch spürbar jene Führungspersönlichkeiten mit wirtschaftlichem Ausweis, die sich aktiv in die Politik einmischen und politische Ämter übernehmen – im Gegensatz zu den heute theoretisierenden Damen und Herren, die im Staat den Problemlöser aller strittigen Fragen sehen oder jenen Marktgläubigen, die nach wie vor davon träumen, dass «der Markt alles regeln werde», auch dort, wo die Erfahrung zeigt, dass gerade das eben nicht der Fall ist und war.
Eine Art Erben Duttweilers politischer Hinterlassenschaft ist die Grün-liberale Partei (GLP), die wahr machte, was nach dem Ende des Kalten Krieges sowohl die SP als auch die FDP versucht hatten. «Mit einem dritten Weg jenseits von links und rechts hatten sie geflirtet», schreibt Michael Hermann (Sotomo Zürich). Die GLP sitzt heute zu oft zwischen den Bänken, da sowohl die SP als auch die SVP in ihr eher eine Konkurrentin als einen gemeinsamen «Brückenbauer» sehen.
Die SVP spaltet die Gesellschaft
«Das Thema Zuwanderung und Bevölkerungswachstum ist relevant, es muss die Politik beschäftigen. Doch die SVP wird es skandalisieren», schreibt Christina Neuhaus in der NZZ. Tatsächlich beschäftigt das Bevölkerungswachstum der Schweiz uns alle (die parteipolitisch Engagierten und die politisch Interessierten) – es wäre das Paradefeld, auf dem die übrigen Parteien punkten könnten, würden sie das grosse Problem einvernehmlich – als «Brückenbauer» sozusagen – endlich auch thematisieren. Die SVP, deren offizielles Wahlkampfbudget doppelt oder mehrfach so hoch ist wie jenes der übrigen Parteien, wird genau aus diesem Grund bei den kommenden Wahlen zulegen.
Einer Studie von Pro Futuris (Denkfabrik der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft) zufolge – sie hat 14’000 Reden seit 1960 ausgewertet – prägt das Narrativ einer «freiheitsliebenden, wehrhaften Schweiz» unser Land, was «zum grossen Teil auf die SVP zurückzuführen sei. Sie gibt dem Land das Gesicht der Abschottungs-Schweiz, die sich gegen innere und äussere Gegner verteidigen muss» (Blick). Wenn das tatsächlich so ist, wäre das allerdings kein Ruhmesblatt.
FDP, SP, Grüne: Mehr praxisnahe, anstelle markiger Worte sind gefragt
In einer Serie hat die NZZ am Sonntag vorausschauend Stellung zu den «Parteien vor der Wahl» bezogen. Der Text von Michael Hermann gibt Gewähr für praxisnahe Beurteilungen. Versucht man, die Quintessenzen davon herauszufiltern, so ergeben sich folgende prägende Attribute für die FDP: Thierry Burkards FDP steht für wirtschaftliche Krisenkompetenz und Standortstärkung. Was Wählerinnen und Wähler darunter verstehen? In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der einstige FDP-Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» auch missverstanden wurde, viele Parteimitglieder wandten sich damals ab, nach links zur SP und nach rechts zur SVP.
Die SP ist längst von der Dürrenmatt-geprägten «Schweiz als selbstgewähltem Gefängnis» abgerückt, mehr und mehr ist sie zur Partei von Menschen mit akademischem Hintergrund mutiert. Sie hat sich von einer Partei der Öffnung zu einer Partei des Ansässigenschutzes gewandelt. «Kopf dieses Wandels ist die unverwechselbare Jacqueline Badran. Nimmermüde kämpfte sie erst gegen ausländische Immobilienkäufer und nun, unter dem Schlagwort «Googleisierung» gegen ausländische Firmenansiedlungen. […] Co-Präsident Wermuth und seine überaus akademischen Mit-Aushängeschilder versuchen einen Bogen um alles allzu «Woke» zu machen.»
«Im grünen Verständnis verlangt die Klimakrise nach einem radikalen Wandel unserer Lebensweise», lesen wir weiter in Hermanns Kolumne. «Und genau das trägt nicht zu den Wahlaussichten der Grünen in der ernüchterten Stimmung von 2023 bei.» Diese Taxierung sehen wir bestätigt im Alltag: Nach Corona wird wieder geflogen, als würde es nächstes Jahr verboten. Vom Wandel unserer Lebensweise ist weit und breit nicht mehr viel zu sehen. «So wird die grüne Drohkulisse stets nie mehr als eine Kulisse sein. Das ist die grüne Zwickmühle, aus der es kaum ein Entkommen gibt.» Kommentar überflüssig.