Kursschiffen auf dem Zürichsee wird das „Hupen“ beim An- und Ablegen untersagt, läutende Kirchenglocken sind Lärmterror, Kuhglocken stören Nachbarn schon auf Distanz, Fussballspiele führen zu Lärmklagen der Anwohner. Alles Anzeichen einer überstrapazierten Gesellschaft oder nur Reaktionen narzisstischer Menschen?
Drei Kategorien von Lärm
Ich unterscheide drei Kategorien von Lärm. Eine wichtige Lärmquelle ist sicher der Verkehr. Flug-, Bahn- und Individualverkehr verursachen ganz schön störenden Lärm. Da wir ihn aber alle mitverursachen, sind wir also „mitschuldig“. Dennoch bekämpfen viele diesen Lärm nach der Devise „zwar nötig, aber nicht in meiner persönlichen Umgebung“. Wer sich beklagt, blendet oft auch aus, dass Flughäfen, Bahnlinien oder Autobahnen schon existierten, bevor die sich Beklagenden in deren unmittelbaren Umgebung Wohnraum erstellten, kauften oder mieteten. Kategorie Egoismus.
Die zweite Gruppe umfasst Industrie-, KMU- und Handwerkerkreise. Sie alle verursachen Lärm. Zwar ist in diesem Fall der Lärmgestörte nicht selbst Mitverursacher, doch er ist Mitprofiteur. Da wir alle auf diese Produktionsbetriebe angewiesen sind, sind Lärmklagen eher selten. Kategorie Übersensibel.
Die dritte Gruppe umfasst jene Mitmenschen, die sich gegen die eingangs erwähnten „Lärm“-Quellen auflehnen. Sie fühlen sich durch alte Traditionen, gesellschaftlich akzeptierte oder gar vertraute Geräusche persönlich gestört. Sie blenden Regeln des demokratischen Zusammenlebens aus. Kategorie Narzissmus.
Lärmhysterie als Zeiterscheinung
Lärm ist schädlich, gar gesundheitsgefährdend, sagt man uns. Wir haben deshalb eine Lärmschutzverordnung. Die Behörden ersinnen zudem laufend neue Massnahmen, um uns noch effizienter vor unzumutbarer Lärmbelastung zu schützen. Dabei ist der Verkehrslärm Lärmverursacher Nummer eins. Die Stadtbehörden Zürichs versehen jährlich neue, sogar Durchfahrtsstrassenzüge, mit Tempo-30-Schildern. Die Folge: Der Verkehr weicht in die Nebenstrassen aus und nervt dort die Bewohner. Doch wir alle fahren selbst Auto (fast alle). Alle Versuche, uns selbst vor uns zu schützen, scheinen wirkungslos.
Das Geschrei um Lärm wird nachgerade zu laut. Selbst in der Stadt Zürich sind die Lärmemissionen als relativ moderat zu bezeichnen, wagt man den Vergleich mit Grossstädten weltweit.
Bundesamt für Verkehr (BAV) kein Vorbild
Ein egoistischer Anwohner bewirkte letztes Jahr, dass eine langjährige Tradition auf dem Zürichsee untersagt wurde, auf Geheiss des BAV. Während Jahrzehnten hatten die Linienschiffe ihre Ankunft und Abfahrt mit einem kurzen Hornen signalisiert. Das kurze Warnsignal sei nicht konform mit der Schweizerischen Binnenschifffahrtsverordnung, befanden die Zuständigen des BAV. Dies mag sogar zutreffen, doch, Hand aufs Herz, wenn eine Bestimmung während fünfzig Jahren „übersehen“ wurde, dann ist sie wohl überholt. Jetzt dürfen die Kursschiffe nur noch auf den anderen Schweizer Seen „hupen“, dort, wo kein Kläger ist.
Vielleicht endet ja das Ganze als eine helvetische Amtsschimmel-Glosse? Befindet nämlich der Kapitän fallweise, es sei für die Sicherheit nötig, soll er zukünftig mit einem langen (statt kurzen) Warnsignal reagieren. Jedenfalls trieb des Hup-Verbot die Bevölkerung rund um den Zürichsee auf die Palme. Eine 85-jährige Dame mit viel Courage schritt zur Tat, respektive schwamm sie täglich den sich nähernden Kursschiffen entgegen, damit der Kapitän sich gezwungen sah, energisch und langanhaltend zu hupen.
Kirchlicher „Lärmterror“ und „Saumeis“ vom Fussballplatz
Ein Ehepaar steht symbolisch für den zeittypischen Kampf gegen den „Lärm“ der Kirchenglocken. Bis vor Bundesgericht zog es seine Klage gegen Kirchgemeinde und Stadt Wädenswil. In diesem Fall beurteilten die Richter die Tradition höher als den Lärmschutz. Vorinstanzen hatten das anders gesehen (gehört?). Haben sich die hohen Richter vielleicht gefragt, warum Kirchengeläute – seit Jahrhunderten prägende Kulisse unseres Landes – plötzlich als Lärmterror bezeichnet wird?
Ennet des Zürichsees, in Herrliberg, plant ein neu zugezogener Bauunternehmer eine grundsätzliche Attacke auf den Volkssport Nummer eins in der Schweiz, den Fussball. Mit einer Immissionsklage – weil er um den Wert seiner Liegenschaft bangt – tritt er an. Der Lärm der Spieler und Zuschauer, ja die Pfiffe des Schiedsrichters stören ihn. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung dürfte wegweisend sein für die ganze Schweiz. Ein Rechtsanwalt meint im TA dazu: „Die Leute wollen absolute Ruhe. Und dazu brauchen sie nur das nötige Kleingeld und etwas Ausdauer.“
Auch in diesem Fall war das Fussballfeld lange vor den neu erstellten Häusern in der unmittelbaren Umgebung da. Die Villa des Klägers allerdings, sie liegt in Zehnminutendistanz. Gerne hätte der Geschäftsführer des Fussballclubs Herrliberg mit ihm geredet, doch er „kämpft gegen einen unsichtbaren Gegner“, (TA). Denn nur der Anwalt des Bauunternehmers erscheint jeweils zu den Verhandlungen mit der Gemeinde.
Eine narzisstische Gesellschaft?
Sind auch bei uns Egomanen im Vormarsch? Was im Grossen in der Politik zu beobachten ist, etwa in osteuropäischen Nationen, in der Türkei, Russland oder in den USA, scheint auch im kleinen, helvetischen Lokalen (Seldwyla) zu spriessen. Das eigene Wohlergehen hat Vorrang nach dem Muster: Ich zuerst (nach der Devise „America first“), schliesslich bin ich reich und erfolgreich, also bin ich wer. Was interessieren mich die andern?
Diese Haltung ist allerdings nicht neu, schon Aristoteles suchte nach einem Ausgleich zwischen Egoismus und Altruismus. Dabei plädierte er für Gerechtigkeit. Und eine aktuelle Umfrage der BAT Stiftung für Zukunftsfragen aus Deutschland signalisiert gar ein Ende des Egoismus: Die Mehrheit der Bevölkerung (84%) sieht für Egoisten in der Gesellschaft keinen Platz. Ob die 2000 Befragten repräsentativ sind, bleibe offen, doch ein zweiter Trend zeichnet sich ebenfalls ab. Eine andere Umfrage suggeriert, dass der Wert der nachbarschaftlichen Beziehungen eine eigentliche Renaissance erlebt. Zusammenhalt wird wieder wichtig, wohl auch als Folge der vielen Unsicherheiten der Gegenwart.
Das Ende des Egoismus?
Signalisieren diese zitierten Umfragen (www.n-tv.de/panorama/) bereits das Ende des Egoismus? Entwarnung scheint noch etwas verfrüht. Doch wenn übertriebener Egoismus u. a. auch die Folgeerscheinung privaten, materiellen Erfolgs darstellt, dann wäre es zumindest denkbar, dass mit dem sich abzeichnenden Ende des Börsen- und Immobilienbooms eine gewisse Art von Normalität im täglichen Zusammenleben zurückkehrte.
Auch das vertraute Kuhglockengeläute, bellende Hunde und krähende Hähne würden nicht mehr Gefahr laufen, von egoistischen Zeitgenossen und eifrigen richterlichen Instanzen einen „Platzverweis“ aufgebrummt zu erhalten.