René Zeyer hat es offenbar mit der Geschichte. Man muss gar annehmen, dass ihn, bevor er sich daran machte, sein Traktat zu verfassen, seine Muse Clio ausserordentlich intensiv geküsst hat und ihm dieser Kuss anscheinend kräftige Flügel verlieh. Jedenfalls trugen ihn diese ein beträchtliches Stück zurück in die Geschichte – um fast hundert Jahre nach Berlin, wo zu Beginn des Ersten Weltkrieges die Sozialdemokraten für die Kriegskredite stimmten und darauf die Leute des Spartakusbundes und andere linksorthodoxe Internationalisten den Spruch prägten, der unverwüstlich zu sein scheint und nun auch unserem René Zeyer als Leitmotiv diente: Wer hat uns verraten, die Sozialdemokraten.
Destination seines zweiten Rück-Flugs war wiederum Berlin, nun aber jenes im Jahr 1933, als der Reichstag das berüchtigte Ermächtigungsgesetz verabschiedete, das die Weimarer Republik zur Strecke brachte und den Nazis als juristisches Eingangstor zur Macht diente.
Das Gewissen von «Exemplaren»
Mit solchen Sprüchen und Begriffen operiert Zeyer, zwar nur in Form von Anspielungen – doch die sind deutlich genug. Und weil er sich in der verbalen Welt jener schrecklichen Zeiten offenbar heimisch fühlt, verwundert auch kaum, dass er mit herabsetzenden Zuschreibungen für Personen nicht geizt. Die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz und ihr St. Galler Kollege Paul Rechsteiner sind in seiner Diktion «zwei Exemplare» (deren Gewissen zu untersuchen er sich anheischig macht), und weil diese beiden Exemplare nicht der Parteilinie folgten, ist für Zeyer gleich auch der Tatbestand des «Verrats» erfüllt.
Da fragt man sich: Wünscht sich Zeyer nordkoreanische oder chinesische Verhältnisse? Zöge er ein Putin-Parlament vor, das Gesetze einstimmig gutheisst (wie diese Woche das Anti-Schwulen-Gesetz)? Seine Tirade gegen die «Abweichler» erinnert in gewisser Weise an sowjetische Zeiten, in denen Abweichler automatisch des Verrats an der Parteilinie beschuldigt und kaltgestellt bzw. beseitigt wurden.
Zeyers Auslassungen zeigen wieder einmal, dass Anleihen bei der Geschichte oder Anspielungen auf kompromittierte Begriffe eine heikle Angelegenheit sind. Man kann sich dabei übel verhauen. Der Fehlgriff tritt fast zwangsläufig ein, wenn versucht wird, Debatten des vergleichsweise friedlichen und nüchternen Schweizer Parlaments mit solchen Anspielungen zu kommentieren. Und der Fehlgriff ist total, wenn es um Debatten wie jene vom Mittwoch über den ominösen US-Deal geht, in der Gegner wie Befürworter sich auf die Sache einliessen, um Argumente rangen und einander zuhörten.
Daneben gezielt
Doch lassen wir diese sprachlichen Abenteuer. Fast mehr zu denken gibt, dass der Mann mit dem starken Geschütz sein Zielgerät möglicherweise nicht zu bedienen weiss. Wäre da nicht eine andere parlamentarische Gruppe, die mindestens so zu kritisieren wäre wie die SP-Abweichler?
Der Freisinn hat beschlossen, den US-Deal abzulehnen. Eigentlich merkwürdig. Während Jahrzehnten war der Freisinn gewissermassen der politische Arm des Schweizer Finanzplatzes. Mit viel Verve bekämpfte er jeden Versuch der Linken, das Bankgeheimnis zu lockern. Systematisch redete er das Flucht- und Schwarzgeldproblem klein und sang, als Kontrapunkt, das Hohelied von Marktfreiheit und Schutz der Privatsphäre. Parlamentarier, angehende oder gewesene Bundesräte sowie Wirtschaftsführer aus der einst grossen freisinnigen Familie sassen in den Verwaltungsräten der Banken, in deren Privatsphäre sie mutmasslich nicht nur Tee tranken, sondern das Geschäft diskutierten und in Kauf nahmen, was dieses Geschäft halt so mit sich bringt.
Ausgerechnet dieser Freisinn sagt jetzt, da die ganze schöne Geldwelt aus den Fugen geraten ist und den Staat Schweiz in eine üble Lage hineingeritten hat: Nein. Sagt einfach: Ohne uns. Sagt: Der Bundesrat soll die Sache richten. Dieser Reflex erinnert an Kinder, die, um sich vor etwas Unangenehmem zu schützen, unter die Bettdecke kriechen. Für Kinder verzeihlich. Doch für eine Regierungspartei?
Die NZZ schrieb am Freitag, die FDP wolle als eigenständige Kraft auftreten und sich «vom Image der saturierten Bankenpartei lösen». Doch löst sie sich von diesem Image, indem sie beim Aufräumen des Schlamassels einfach zur Seite tritt? Wahrscheinlich legt sie sich dergestalt ein anderes Image zu – dasjenige der Feigheit.
Zurück zum Anfang. René Zeyer attestiert dem Freisinn eine «klare Position». Eigentümlich, was der Kollege durchs Zielgeräte seines Geschützes alles so wahrnimmt.