Was für eine Affiche! Einer der grössten Maler im bedeutendsten Kunstmuseum der Welt. Bekommt er einen grandiosen Auftritt? Weit gefehlt. Der Louvre empfängt Vermeer in ein paar kleinen Gemächern tief im Inneren seiner endlosen Gebäudefluchten. Wer ist dieses sagenumwobene Genie, das lange praktisch vergessen war und erst dreihundert Jahre später neu entdeckt wurde?
Johannes (oder Jan) Vermeer (oder van der Meer) von Delft in Holland lebte von 1632 bis 1675, wurde also nur 43 Jahre alt. Nach heutigem Stand sind von ihm gerade mal drei Dutzend als echt anerkannte Gemälde überliefert. Es heisst, er habe lediglich etwa zwei Bilder pro Jahr fertiggestellt.
Im Kontext der Zeitgenossen
Der Louvre zeigt nun zwölf Vermeers. Er stellt sie in den Kontext der holländischen Genremalerei des „Goldenen Zeitalters“ um 1650 herum. Wirtschaftlicher Aufschwung und die Herausbildung eines selbstbewussten Bürgertums riefen zu jener Zeit in den Niederlanden eine Dichte und Qualität der Bilderproduktion hervor, die in der Kunstgeschichte ohne Beispiel ist. Die Maler waren Unternehmer, der Kunstmarkt florierte, es herrschten Wettbewerb, Entdeckergeist und europaweiter Austausch.
Seit jeher wird ein Grossteil von Vermeers Œuvre der Kategorie der Genremalerei zugeschlagen. Genrebilder zeigen idealisierte Alltagsszenen und folgen dabei bestimmten ikonographischen Konventionen, die sich im Markt herausgebildet hatten. Ein wohlhabendes und gebildetes Bürgertum zahlte gute Preise, um auf handwerklich hervorragenden Gemälden die eigenen Wert- und Wunschvorstellungen abgebildet zu sehen und sich im Prestige des Besitzes guter Kunst zu sonnen.
Zum Typus Genrebild gehörte einerseits die präzise Wiedergabe von Kostümen, Interieurs und allem möglichen Hausrat, andererseits aber zwingend auch die allegorische und moralistische Überhöhung der Sujets. Maler wie Gerard ter Borch, Nicolaes Maes, Gerard Dou, Jan Steen, Gabriel Metsu, Pieter de Hooch und Samuel van Hoogstraten produzierten für diesen Markt. Die Genrebilder waren zweckmässigerweise meist kleinformatig und wurden deshalb „Beeldeken“ (Bildchen) genannt. Anders als für heutige Betrachter waren sie für die mit den ikonographischen Anspielungen vertrauten Käufer eindeutig zu lesen.
Gegenüberstellungen
Und nun also Vermeer unter den Genrekünstlern. Fünfzig Bilder hat der Louvre versammelt, ein knappes Viertel davon ist von Vermeer. Der Vergleich bietet ein Abenteuer des Sehens. Die Parallelität der Motive geht bis zum Arrangement der Szenen und zum Bildaufbau. Die Codes der symbolischen Handlungen und Gegenstände waren ohnehin gegeben. Sieht man nun aber die Goldwägerinnen von Pieter de Hooch und Jan Vermeer nebeneinander, so hat man trotzdem zwei völlig verschiedene Bildwelten vor sich.
Eine prächtig gekleidete Frau steht am Tisch beim Fenster. Die Decke hat sie beiseite geschoben, um Platz zu machen für Goldmünzen, die sie nun wägt. Es herrscht der Eindruck von Üppigkeit mit schweren Stoffen in prächtigen Farben. Und in eben dieser Dominanz des Materiellen liegt auch der moralische Fingerzeig: Man soll zwar Reichtümer erarbeiten; doch das Herz an sie zu hängen, ist verwerflich. Goldwägerinnen sind in der Genremalerei meist alte Frauen, dargestellt in bildlichen Stereotypen des Geizes. Auch wenn Pieter de Hooch seine Goldwägerin nicht als alte geizige Frau gestaltet, so vermittelt sein Gemälde doch durch die aufdringliche Opulenz eine Negativbotschaft: Werdet nicht wie sie! Lasst euch von eurem weltlichen Reichtum nicht ablenken von dem Bemühen um geistliche Reifung und ewiges Heil! Das Bild ist Calvinismus pur.
In Vermeers Version des Sujets geht es kaum weniger nobel zu als bei de Hooch, doch von einem Protzen mit aufdringlichem Reichtum ist nichts zu sehen. Der Raum ist verschattet. Ein Vorhang vor dem links oben erkennbaren Fenster lässt nur wenig Licht auf die Frau, den Tisch und die Wand fallen. Dort hängt ein Gemälde, welches das Jüngste Gericht darstellt. Gegenüber der schwangeren Frau neben dem Fenster ist ein perspektivisch stark verkürzter dunkel gerahmter Spiegel zu erkennen.
Die feine Waage, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger der Rechten hält, ist leer. Um sie ruhig halten zu können, stützt die Frau ihre Linke ganz leicht auf den Tisch. Wenn nicht sie, so wird gewiss der Betrachter dieses Moments den Atem anhalten. Damit die Waage richtig wägt, muss sie im Gleichgewicht sein. Das prüft nun die Schwangere. Um Gold oder Perlen geht es augenscheinlich nicht. Vielmehr gewinnt hier das Wägen – die Darstellung des Jüngsten Gerichts gibt den Hinweis – eine existentielle Dimension. Am Ende der Zeiten, so heisst es, sollen alle, die je gelebt haben, gewogen werden – und wer dann für zu leicht befunden wird, also nicht genügend Gutes auf die Waagschale bringt, wird das ersehnte ewige Heil nicht erlangen.
Die Frau beobachtet das Spiel der Waage, bis sie im Gleichgewicht zur Ruhe kommt. Ihr Blick – den man nicht sieht, aber ahnt – ist ebenso nach innen wie auf das filigrane Gerät gerichtet. Sie denkt an das werdende Leben in ihrem Leib. Es wird zum für sich selbst verantwortlichen Menschen heranwachsen, und auch er wird dereinst gewogen werden. Noch sind die Waagschalen des Ungeborenen leer. Vermeer hat aus dem konventionellen moralistischen Sujet eine Meditation über die menschliche Existenz gemacht, indem er eine Frau in tiefem Nachdenken zeigt – er malt sie nicht als vorgeprägten Typus im Schema der Genrebilder, nicht als Trägerin konventionalisierter Bedeutungen, sondern als menschliche Person.
Von der Konvention zur Kommunikation
Briefe waren beliebte Sujets der Genrekunst; in Vermeers Œuvre spielen sie eine gewichtige Rolle. Sechs seiner Bilder handeln vom Empfangen oder Schreiben von Briefen. Verfolgt man das Motiv in der Malerei der Zeit, so entdeckt man viele offene und verborgene Verweise auf biblische Ur-Szenen des Briefs in der Geschichte von David und Bathseba: König David sieht die badende Bathseba, die schöne Frau des auf seinen Befehl im Krieg gegen die Ammoniter kämpfenden Urija. David lässt sie durch einen Boten (der dabei vorausgesetzte Brief des Königs ist nicht ausdrücklich erwähnt) zu sich holen und schläft mit ihr. Später gibt David per Brief (nun explizit erwähnt) an seinen Heeresführer Joab den Befehl, Urija im Kampf auf eine hoffnungslose Position zu schicken, auf dass dieser umkomme.
Diese motivischen Verknüpfungen waren in der Codierung des Briefsujets präsent. Oft erscheinen Briefe in der Genremalerei deshalb als Instrumente der Verführung und Vehikel des Eindringens in die geschützte Welt der Wohlanständigkeit. Vermeer jedoch löst sich in seinen Brief-Bildern deutlich von den biblischen Anspielungen der Genrekunst. Seine Briefleserinnen empfangen Liebesbriefe, die sie erwartet haben. Eine von ihnen, die „Briefleserin in Blau“ (1662–1664, Rijksmuseum Amsterdam) ist schwanger, hinter ihr an der Wand ist eine Landkarte aufgehängt. Sie liest wohl die sorgenden und liebevollen Worte ihres auf Reisen abwesenden Mannes.
In drei der Vermeerschen Briefszenen empfangen die Frauen die Briefe nicht, sondern schreiben sie (auf einem der Bilder geschieht beides gleichzeitig: eine Magd bringt der beim Schreiben sitzenden Dame einen Brief). „Briefschreiberin in Gelb“, eines der besonders schönen Bilder in der gegenwärtigen Ausstellung, hebt die Schreibende aus dem abgedunkelten Raum heraus und zeigt sie im Moment des Innehaltens. Ihr Blick geht in die Richtung des Betrachters ohne ihn anzuschauen. Sie ist bei sich und ihrem Tun, denkt an den Empfänger ihres Briefs und ist damit gleichzeitig hier und nicht hier – die essentielle Haltung der Kommunikation, die Menschen über räumliche und zeitliche Trennungen hinweg verbindet.
Maler der Condition humaine
Einen vergleichbaren Ausdruck der anwesenden Abwesenheit findet man auch bei der „Lautenspielerin am Fenster“ (1664, Metropolitan Museum of Art, New York). Anders als in den in der Genremalerei sehr verbreiteten Musizierszenen behandelt das Gemälde nicht die moralisch etwas anrüchige, weil aufs Vergängliche gerichtete Geselligkeit oder das eitle sich Produzieren am Instrument, sondern einen innigen Augenblick: Die Lautenspielerin ist gerade dabei, das Instrument zu stimmen. Ihre auf den ersten Blick verwunderliche Kopfhaltung rührt daher, dass sie ihr rechtes Ohr der zu stimmenden Saite annähert. Der Blick geht zum Fenster, ohne draussen etwas zu sehen. Sie sucht den richtigen, den reinen Ton, Anfang und Grundlage jeder Musik.
Ist dieser Jan Vermeer nun tatsächlich ein Genremaler? – Ja, denn er bedient sich der Themen und Ausdrucksmittel dieser Kategorie von Kunst. Nein, denn seine Behandlung der Sujets lässt die Konventionen des Genretypus weit hinter sich. Vermeer interessiert sich nicht für die Zurschaustellung maltechnischer Kunstfertigkeit (obwohl er sie souverän beherrscht). Die visuellen Moralpredigten, die zum Setting gutbürgerlichen Bildgebrauchs gehörten, absolviert er nebenbei und nur, wenn sie sich seinem übergeordneten malerischen Interesse fügen.
Vermeers Interesse ist humanistisch-aufklärerischer Art. Malend ergründet er die Condition humaine. Ihm wird eine Nähe zur zeitgenössischen Philosophie Spinozas nachgesagt. Sollte Vermeer tatsächlich zum Denken dieses eminent kritischen Geistes geneigt haben, so könnte sein die Grenzen der Genremalerei sprengendes Format erst recht nicht verwundern.
Historisierung des Mythos Vermeer
Kunsthistorische Forschung sucht in ihrer Erkundung einzelner Artefakte und ganzer Œuvres stets nach Einflüssen feststehender Formen, nach gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontexten. Sie widersteht der Kanonisierung einzelner Figuren, sucht das angeblich Herausragende einzuordnen. So holt sie historische Persönlichkeiten vom Sockel des Geniekults, auf den so mancher Künstler gehoben wurde.
Auch der Louvre will offensichtlich kein Tempel der idealisierenden Heroenverehrung mehr sein und sich nicht in den Dienst einer fragwürdigen Mythenpflege stellen. Mit seinem aktuellen Ausstellungskonzept „historisiert“ er den nach der Wiederentdeckung durch Théophile Thoré im 19. Jahrhundert zum überzeitlichen Genius hochstilisierten Vermeer. Selbstverständlich geschieht dies mit guten Gründen, denn jede Aureole blendet den kritischen Blick der Betrachter. Zeitgemäss sind Heiligenscheine ohnehin nicht mehr, jedenfalls bei historischen Phänomenen, wie es auch die ganz Grossen der Kunst nun einmal sind.
Was bei der Einordnung Vermeers in die Gattung der Genremalerei nun aber herauskommt, das zeigt interessanterweise gerade die Grenze dieses historisierenden Zugangs auf. Trotz der hinreissenden Qualitäten bei Metsu, Steen, de Hooch und anderen Genremalern des Goldenen Zeitalters bleiben nämlich die meisten von Vermeers Bildern denn doch unvergleichlich. So kommt es, dass die Einordnung, die erklärend wirken will, am Ende nur das Unerklärliche eines Genies wie Vermeer ins Licht stellt.
Wer vom Vermeer-Fieber affiziert ist, sollte jetzt nicht zögern, sich nach Paris aufzumachen. Selbst wenn im Louvre mit der „Ansicht von Delft“ und der „Allegorie der Malerei“ zwei der berühmtesten Gemälde Vermeers fehlen, kann man doch annehmen, dass eine derart prominent ausgestattete Schau seiner Bilder so bald nicht wieder zu sehen sein wird. Zudem meistert der Louvre nach anfänglicher Überforderung das Management des Publikumszustroms inzwischen recht passabel. Zu empfehlen ist die Online-Buchung des Eintritts etwa vierzehn Tage im Voraus.
Der Besuch kann thematisch ergänzt werden mit zwei weiteren Ausstellungen: Unter dem Titel „Dessiner le quotidien – La Hollande au Siècle d’or“ präsentiert das Haus bis am 12. Juni 2017 eine grossartige Sammlung von Zeichnungen, und noch bis am 22. Mai 2017 ist die exquisite private Gemäldesammlung „Chefs-d’ œuvre de la Collection de Leiden – Le siècle de Rembrandt“ zu bewundern.
Musée du Louvre, Paris: Vermeer et les maîtres de la peinture de genre, bis 22. Mai 2017