„Es ist noch da“, ruft mir meine Frau zu, welche kurz nach Pagny-sur-Meuse die Einfahrt vom Canal de la Marne au Rhin in die erste Schleuse des Canal de la Meuse überwacht!
Gottseidank, denken wir erleichtert, Frankreich ist im Herzen stabil geblieben, und das wird sich auch in Zukunft kaum ändern, wie immer auch der zweite Wahlgang am kommenden Sonntag ausgeht. Farbenprächtig begrüsst noch immer die Subdivision de Verdun der VNF (Voies navigables de France), welche im Auftrag des Staates das schiffbare Kanal- und Flussnetz betreibt, die Schiffer auf dem Kanal.
Auf der Tafel wird unter dem gross geschriebenen Titel „AVIS AUX PLAISANCIERS“ darauf hingewiesen, dass man sich für die Durchfahrt durch die Schleusen Nr. 11 bis 27 am Vortag bei der VNF in Verdun anzumelden habe. Und damit auch jene, welche sich mit der französischen Amtssprache – oder überhaupt mit dem Französischen – schwer tun, den Konsequenzen dieser Anweisung nicht entwischen können, wendet sich die VNF auch in Deutsch und Englisch an die Hobby-Kapitäne.
„Meldung für die Vergnüngsdampfer“
Offenbar hat man vor vielen Jahren derart viel an Geld und Überlegung in die Übersetzung investiert, dass der wunderbare Text, seit wir ihn vor zehn Jahren auf der Fahrt von Basel nach Paris erstmals staunend zur Kenntnis genommen hatten – die Dezennien unbeschadet überlebt hat. Als erste Knacknuss gab es damals die Frage zu lösen, wie das ungewohnte Wort „plaisanciers“, oder auch „bateaux de plaisance“, mit dem in Frankreich diese Art von Schiffen von den „bateaux de commerce“ unterschieden werden, ins Deutsch zu übersetzen sei. Findige Deutschkenner stiessen auf das Wort „Vergnügen“, nur sträubte sich dieses Wort gegen eine Personifizierung („Vergnüger“ oder „Vergnügende“?), also schaute man in einem Wörterbuch aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts nach und fand für „bateau“ die Übersetzung „Dampfschiff“. Und daher wendet sich die VNF am Anfang des Canal de la Meuse an die Deutschsprachigen mit MELDUNG FÜR DIE VERGNÜGUNGSDAMPFER.
Das war, wie gesagt, schon immer so, zumindest seit es neben den kommerziellen Schiffern, welche nicht zum Vergnügen unterwegs sind, auch die andern gibt, die Vergnügten eben. Und wenn man positiv veranlagt ist, darf man wohlwollend zur Kenntnis nehmen, dass sich die Welt auf vielen französischen Wasserwegen gewaltig verbessert haben muss, denn es gibt unterdessen kaum noch Schiffe, welche nicht zum Vergnügen unterwegs sind...
Meuse – Maas – Mouze
Aber wir sollten – gerade in diesen arglistigen Zeiten – nicht über unser wundervolles Nachbarland spotten, wo Milch und Honig fliessen. Lassen wir also auch den fünfzeiligen Text, der auf den Aufruf folgt und in dem die VNF rund zehn lustige Wortentstellungen untergebracht hat, grosszügig ausser acht und wenden wir uns dem Fluss zu, auf dem wir während der nächsten Tage über viele hundert Kilometer unterwegs sein werden: Meuse – Maas – Mouze: Drei Namen für einen nur zu leicht verkannten europäischen Fluss, der über 900 Kilometer lang ist und damit in Westeuropa nur gerade von Rhein, Elbe und Loire übertroffen wird.
Wie die Mosel/Moselle entspringt die Meuse in Frankreich, unspektakulär auf dem Hochplateau von Langres in Château-sur-Meuse, wo sie wegen der Nähe anderer, gleichsam das Wasser abgrabenden Flüsse, so der Saône, der Moselle und der Marne, keine allzu grosse Entwicklungsmöglichkeiten vorfand. Von dort wendet sie sich, wie die weiter östlich liegende Moselle, nordwärts, bildete während langer Zeit die westliche Grenze des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und frisst sich nach Charleville-Mezières in einem tief eingeschnittenen Tal in vielen Windungen durch die Ardennen. Bei Givet – die französische Grenze schiebt sich an dieser Stelle weit nach Norden vor – überquert sie die Grenze zu Belgien, vereinigt sich bei Namur mit der Sambre, passiert Liège und erreicht bei Maastricht – wer in der Bildung Tätige kennt nicht die entsprechenden europäischen Verträge – endlich Holland und wird damit endgültig zur Maas.
Unverbauter Wiesenbach
Ein Blick auf die Karte zeigt: Wir Flussreisende hätten es bedeutend einfacher haben können, denn wären wir in Koblenz nicht auf die Mosel gefahren, hätte uns der Rhein bzw. der Waal, einer seiner holländischen Arme, in der Nähe von Nijmegen fast von selbst auf die Maas gestossen. Es ist eindrücklich, wie Rhein/Waal, Maas und Schelde fast parallel und ganz nahe durch Holland nach Westen zur Nordsee fliessen und dort ein komplexes, ausgefranstes gemeinsames Delta bilden, an dessen nördlichem Rand das Tor zur Welt, Rotterdam, liegt. Aber wir wollten diesen geheimnisvollen Fluss möglichst in seiner ganzen Länge erleben und entschieden uns daher für diese.
Ja, dieses Delta mit seinen tausend Wasserläufen! Darüber wird es eine eigene Geschichte zu erzählen geben. Noch sind wir aber im oberen Tal der Meuse, das, abgesehen von den wenigen grösseren Städten oder Ortschaften wie Verdun oder Sedan, noch immer im 19. Jahrhundert zu schlummern scheint. Die Meuse schlängelt sich als unverbauter Wiesenbach durch die Felder – zumindest dort, wo der Schifffahrtsweg in einem Seitenkanal verläuft. Kühe stehen am Wasser, es wimmelt von Vögeln: Reiher, Milane, Enten und Gänse … Den Eisvogel, der vor zehn Jahren immer wieder vor dem Schiff von einer Uferböschung zur andern geflitzt war, haben wir noch nicht entdeckt. Vielleicht ist es ihm – trotz seines Namens – einfach noch zu kalt.
Verdun: 700‘000 Tote
Der französische Kanal entlang der Meuse und seine südliche Anbindung an die Moselle bei Toul ist für französische Verhältnisse noch jung. Er entstand nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, als Frankreich grosse Teile seiner östlichen Gebiete an Deutschland verlor. Der neue Kanal von Belgien sollte die Städte Toul und Nancy wieder ans französische Kanalnetz anschliessen.
Im Jahre 1884 wurde die fast 300 Kilometer lange Wasserstrasse eröffnet. Sie verdankte ihr Entstehen einem Krieg, und kriegerisch war auch ihre Zukunft. Hier in Verdun, wo wir den 1. Mai verbringen, weil die Schleusen nicht in Betrieb sind, kann man sich einer der schlimmsten Episoden der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht entziehen. Hier liegen wir friedlich mitten in der Stadt, lesen in einem Führer über die Schlacht von 1916 und können doch kaum nachempfinden, wie die Welt hier damals ausgesehen hat. Ungefähr 700‘000 Soldaten sind auf beiden Seiten ums Leben gekommen, von den zahlreichen Verletzten und Verkrüppelten gar nicht zu sprechen!
Meine Gedanken als Europäer kehren zurück zum Vergnügungsdampfer: Mögen die Sprachen, hier und dort, auch manchmal etwas bizarr daherkommen, so grenzt es an ein Wunder, dass hier überhaupt deutsche Texte zu lesen sind. Das ist für mich eines der grossen europäischen Wunder des 20. Jahrhunderts; geben wir Sorge dazu, dass es ein Wunder bleibt.