Vor sich hat er ein Orchester, das ihm zugetan ist. Oben auf der Bühne eine Inszenierung, die Zuschauer, Mitwirkende und Dirigenten gleichermassen verzaubert. Und hinter sich ein Publikum, das sich von seiner Art Tschaikowski zu spielen verführen lässt.
Stanislav Kochanovsky könnte nichts Besseres passieren
Zart wie ein laues Lüftchen an einem flirrenden Sommertag beginnt die Musik und hält doch immer eine Spannung, die sich im Laufe des Abends und im Fortgang der Geschichte um Jewgeni Onegin gefährlich und bedrohlich entlädt. Stansilav Kochanovsky führt das Philharmonia Orchester des Zürcher Opernhauses mit sicherer Hand durch diese emotionsgeladene Musik. Es ist eine Reise durch seelische Höhen und Tiefen, die Tschaikowski beim Komponieren selbst erlebt hat.
Die Premiere von «Jewgeni Onegin» in Zürich war für alle Beteiligten ein überwältigender Erfolg. Auch für Stanislav Kochanovsky. «Ich freue mich wirklich sehr», sagt er ein paar Tage später und fügt bei: «Die endgültige Version unserer Interpretation haben wir allerdings noch nicht gefunden.» Das ist schliesslich das Schöne an live-Vorstellungen, dass keine genau gleich ist wie die andere. Obwohl es das gleiche Stück ist. Wir sitzen im Spiegel-Foyer. Man hört gedämpfte Musik von der Bühne, wo die nächste Oper geprobt wird. Sonst ist alles still und leer. Entspannt sitzt Kochanovksy auf der Polsterbank. «Der Kontakt zum Orchester war vom ersten Moment an sehr, sehr gut», erzählt er und schwärmt gleich noch ein bisschen vom Opernhaus, wo alles und alle so gut vorbereitet gewesen seien, auch direkt nach der Sommerpause.
Verliebt in die Bühnenatmosphäre
Mit seinen 36 Jahren ist Kochanovsky immer noch jung. Geboren wurde er in Sankt Petersburg, dort wohnt er noch heute. Allerdings ist seine Welt grösser geworden und reicht inzwischen weit über Russland hinaus. «In meiner Familie gab es keine Musiker. Mein Grossvater hat Klavier gespielt, aber nur so nebenbei. Hauptberuflich war er Ingenieur und hat Flugzeuge entwickelt! Aber er hat uns Enkelkindern die Musik nähergebracht und ist mit uns ins Mariinsky-Theater gegangen, wo ich auch zum ersten Mal ‘Jewgeni Onegin’ gesehen habe.» Dass er sich dann aber ernsthaft mit einer musikalischen Laufbahn auseinandergesetzt hat, verdankt er der Grossmutter. «Sie hatte im Radio gehört, dass die Glinka-Kapelle Nachwuchssänger sucht und ein Vorsingen veranstaltet.» Die Glinka-Kapelle ist eines der musikalischen Zentren in Sankt Petersburg, wo Konzerte stattfinden und Musiker ausgebildet werden und sie geht noch auf die Gründung der Stadt in der Zarenzeit zurück. «Dort habe ich vorgesungen und wurde gleich in die Glinka-Schule aufgenommen.» Kurz darauf gab es ein zweites Vorsingen für die «drei Knaben» in der «Zauberflöte» und Stanislav wurde als «zweite Stimme» ausgewählt. «Ich habe also in den Vorstellungen mitgesungen und habe mich verliebt in die Atmosphäre auf der Bühne, die Sänger, das Orchester und ganz besonders fasziniert hat mich der Dirigent. Da wusste ich: das will ich auch! Und ich habe mich entschieden, Dirigent zu werden. Damals war ich elf Jahre alt.» Um Dirigent werden zu können, musste er sich aber zuvor noch an einem Instrument ausbilden lassen. So wurde er Organist und Chordirigent – und schliesslich Orchester-Dirigent. Im Sankt Petersburger Mariinsky-Theater hat er «Jewgeni Onegin» nicht nur zum ersten Mal gesehen, sondern Jahre später stand er hier mehrmals im «Onegin» selbst am Pult.
«Jewgeni Onegin» – ein Meisterwerk
Alexander Puschkin war der Autor der Geschichte des Lebemannes Onegin, der auf einem Landgut der scheuen, jungen Tatjana begegnet, die sich sofort in ihn verliebt, während er sie schnöde sitzen lässt. Ganz anders ist die Situation später: Tatjana hat einen Fürsten geheiratet, als Onegin wieder auftaucht und nun seinerseits um Tatjana wirbt, die ihn abweist. Knapp fünfzig Jahre später nahm Peter Tschaikowski den Stoff auf und komponierte die Oper.
Wie hat sich denn im Laufe der Zeit Kochanovskys Blick auf das Stück verändert? Zumal jetzt, mit der neuen Produktion in Zürich? «Nur schon durch die eigenen Lebenserfahrungen, die man gemacht hat, erlebt man das Stück anders. Es ist ein wahres Meisterwerk und die berühmteste russische Oper. Da trifft das Genie Puschkin auf das Genie Tschaikowski und wir sehen nun die Geschichte durch die Augen des Komponisten. Es berührt einen sehr, wenn man weiss, dass Tschaikowski im gleichen Jahr, als er das komponierte, ebenfalls den Brief einer jungen Frau erhielt … die er dann heiratete. Wegen seiner Homosexualität wurde das natürlich ein Debakel. Drei Monate später waren die beiden wieder geschieden. Was da in Tschaikowski vorging, spürt man von den ersten Tönen der Einleitung bis zur allerletzten Note. Man hat das Gefühl, dass er alles am Stück komponiert hat. Deshalb gefällt es mir auch, dass in Zürich keine Pause zwischen dem ersten und zweiten Akt gemacht wird.» Wobei er sich ein bisschen Sorgen um das Publikum macht, das so lange stillsitzen muss. Zu Unrecht! Das Publikum ist fasziniert von den Bildern auf der Bühne und von der Musik. «Es war wunderbar, diese Aufmerksamkeit im Publikum», sagt Kochanovsky. «Man hörte nicht das geringste Geräusch. Das spüre ich selbst im Rücken, wenn das Publikum Gänsehaut bekommt und wie gebannt zuhört … das Zürcher Publikum ist da sehr einfühlsam und sehr herzlich beim Applaus.»
Russischer Sommer statt eisiger Winter
«Jewgeni Onegin» ist eine Ko-Produktion mit der Komischen Oper Berlin, wo Regisseur Barrie Kosky auch Intendant ist. «Ich habe vor Zürich die Aufführung in Berlin gesehen und auch schon dirigiert», erzählt Kochanovsky. «Mir gefällt es sehr, dass alles in der Natur spielt: Wiesen, Bäume, alles im Freien. Das ist sehr ungewöhnlich! Normalerweise spielt das bei uns im russischen Winter, mit Schnee auf der Bühne. Bei Barrie Kosky herrscht heisser Sommer. Das passt sehr gut zur Musik.»
Natur. Ein Stichwort, das sofort fällt bei der Frage nach dem, was ihn denn in der Schweiz am meisten beeindruckt. Dass auf die Natur geschaut wird und die Bevölkerung sich um die Natur kümmert, gefällt ihm sehr. «Und natürlich auch die Pünktlichkeit von Zügen, Trams, Schiffen ... alles ist so komfortabel. Natürlich sehe ich das alles nur von aussen und weiss nicht, was es innen für Probleme gibt.»
Wie wird man aber – gerade als Dirigent – die Musik auch wieder los, nachts, nach einer Vorstellung, in der man umbrandet wurde von Klängen? «Tja, eigentlich hört die Musik nie auf … Es ist unmöglich nach einer Oper oder einem Konzert einfach nach Hause zu gehen und zu schlafen. Je nachdem, was ich am nächsten Tag vorhabe, nehme ich noch ein Bier oder laufe ein Stück dem See entlang und denke darüber nach, was man das nächste Mal besser machen könnte, oder ich bereite meine nächste Partitur vor, die erst in einem Monat oder einem Jahr drankommt. Ich habe auch hier in Zürich viele Partituren dabei. Mein Ziel ist es, herauszufinden, was los war, als der Komponist sein Stück schrieb, wie er sich zu dieser Zeit fühlte und was in seinem Kopf vorging. Was hat er zum Beispiel anschliessend komponiert? Solche Gedanken beschäftigen mich, wenn ich eine Partitur erarbeite.»
Sowjetisches Ausbildungssystem
In den vergangenen Jahren haben eine ganze Reihe jüngerer Dirigenten aus Russland westliche Bühnen und Konzertsäle erobert mit grossem Können, eigenständiger Persönlichkeit und sehr griffiger Vorgehensweise. «Einerseits findet jetzt ein Generationenwechsel statt», erklärt Kochanovsky. «Auf der anderen Seite gab es für die Musiker das phantastische sowjetische Ausbildungssystem, aus dem auch Dirigenten wie Yuriy Temirkanov, Valery Gergiev, Neeme Järvi oder Mariss Jansons kommen. Wir können wirklich froh sein, dass wir uns das erhalten konnten … Aus Russland kamen immer hervorragende Solisten und Dirigenten. Beim Entwickeln von spektakulären Autos sind wir nicht so gut. Aber in der Kultur schon! Überall in der Welt gibt es grossartige russische Sänger und Sängerinnen, die Wagner oder Verdi singen oder sonstwas. Die Russen sind generell recht kreativ. Sie sind sehr schnell, wenn man einen anderen Weg finden muss, weil der eine nicht geht … Das ist russisch. In einem gewissen Sinne ist das schlecht, denn niemand hält sich wirklich an die Regeln. In Europa und speziell in der Schweiz wäre es undenkbar, sich nicht an die Regeln zu halten. Andererseits bleibt man auf diese Art geistig erfinderischer …»
Sagt’s und lacht und geht …. und verabschiedet sich ganz liebenswürdig in schönem Deutsch mit «Auf Wiedersehen», nachdem er zuvor Englisch gesprochen hatte.
«Jewgeni Onegin»
Pjotr Tschaikowski
Opernhaus Zürich
8., 13., 19., 22., 25., 28. Oktober 2017