Seit hundert Jahren wird der Untergang der westlichen Welt konstatiert, prophezeit oder als historisches Gesetz ausgegeben. Nach der Wahl eines unberechenbaren US-Präsidenten, der gerne mit Drohungen operiert, gibt es erneut Gründe für Befürchtungen.
Donald Trump feiert sein Comeback in den USA, Victor Orbán geriert sich als Abwracker der EU, in Frankreich bereitet Marine Le Pen ihren Griff nach der Präsidentschaft vor. Eine wachsende Zahl von Exponenten eines selbstbewussten und rücksichtslosen Wir-zuerst-Denkens wirft die westlichen Werte auf den Trümmerhaufen der Geschichte. Sie tun es ruppig wie Trump, smart wie Orbán, wattiert wie Le Pen – doch bei allen Unterschieden der Taktik gleichen sich die Strategien.
Die beiden grossen Autokraten in China und Russland erklären den Westen für dekadent und abgewirtschaftet. Wenn auch mit anderer Motivation und ohne destruktive Absicht, kommen manche renommierte Beobachter im Westen zu ähnlichen Urteilen. Der Historiker Heinrich August Winkler, Verfasser der vierbändigen «Geschichte des Westens» (2009–2015) fragte schon 2017: «Zerbricht der Westen?» Er ist mit seiner Besorgnis nicht allein geblieben. In jüngster Zeit mehren sich auf dem Buchmarkt die gut verkauften Zeitdiagnosen, die einen Zerfall der westlichen Welt konstatieren oder voraussagen.
Nun ist solche Apokalyptik in gewisser Weise seit jeher ein Begleitphänomen der westlichen Erfolgsgeschichte gewesen. Eine herausgehobene Position in diesem Diskurs des unvermeidlichen Niedergangs hat der Kulturphilosoph Oswald Spengler. Sein Hauptwerk «Der Untergang des Abendlandes» (1918/1922) wurde nicht nur zum Kultbuch der Zivilisationsskepsis, sondern auch zum Wegbereiter des Nationalsozialismus. Gerade die durchschlagende und problematische Wirkung dieses wissenschaftlich dubiosen Machwerks ist ein Grund, auch mit aktuellen Zerfallsnarrativen kritisch und differenziert umzugehen.
So wäre denn zu fragen: Was genau ist dieser Westen, der nun unter dem Einfluss der Trumps, Orbáns und Le Pens sowie durch die offenkundige Feindschaft Russlands und Chinas angeblich zu zerfallen droht?
Spricht man vom «Westen», so sind im wesentlichen Europa, die USA und die mit ihnen verbundenen Nationen gemeint, doch nicht einfach als pragmatisches Konglomerat, sondern als ideengeschichtlich verbundener Teil der Welt. Materiell umfasst der in dieser Assoziation herrschende Konsens freiheitliche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Verpflichtung auf die Menschenrechte. Allerdings wurden und werden diese Kriterien nicht immer eingehalten. Es gehört aber zu den Qualitäten des Westens, dass er nicht nur die entsprechende Selbstkritik zulässt, sondern – wenn auch manchmal gegen Widerstände und mit Verzögerung – auch die nötigen Korrekturen vorzunehmen vermag.
Europa als Kerngebiet des Westens ist geprägt von einer Kultur der Machtteilung. Das mittelalterliche Duopol von Kaiser und Papst wurde im 11. Jahrhundert mit dem Investiturstreit – der Auseinandersetzung um das Recht der Einsetzung von Bischöfen – als abendländisches Modell der gegenseitigen Relativierung staatlicher und religiöser Macht institutionalisiert. Der Kaiser konnte nicht alles beherrschen: Die Einsetzung der Bischöfe, die ja teilweise auch weltliche Macht ausübten, blieb ihm verwehrt. Auf der anderen Seite konnte der Papst keine Theokratie errichten: Er musste den Kaiser als mächtigen Gegenpart dulden.
Mit der Marginalisierung der Kirche in der Moderne fiel die Rolle des Konterparts zur politischen Herrschaft zunehmend an die Vielzahl sich dynamisch entwickelnder ziviler Formationen. Heute ist man es gewohnt, Staat und Gesellschaft als voneinander zwar nicht getrennte, aber unterschiedene Entitäten zu sehen. Die Zivilgesellschaft ergänzt die politischen Institutionen, sie kann aber auch mit ihnen rivalisieren. Als Gegenkraft grenzt sie so die staatliche Macht ein. Dies ist die Art, wie im Westen – auch nach dem weitgehenden Ausfall der Religion als Machtfaktor – noch immer der Staat an totaler Machtentfaltung gehindert wird.
So lange diese Relativierung staatlicher Macht funktioniert, ist die gesellschaftliche Kraft zur Selbstkorrektur, dieser eigentliche Kern des westlichen Wertegerüsts, nicht in Gefahr. Ein Westen, in dem zivilgesellschaftliches Engagement lebendig bleibt, wird immer wieder zur Korrektur von Fehlentwicklungen fähig sein. Und er wird sich dadurch gegenüber sämtlichen Autokratien nicht nur als das lebenstüchtigere, sondern auch als das innovativere, erfolgreichere und attraktivere Modell erweisen.
Vergleicht man die Zustände im Westen mit denen antiwestlicher Gesellschaften, so bestätigt sich dessen Überlegenheit eindrücklich. Der Westen liegt bei allen Indikatoren vorn: Wohlstand, persönliche Zufriedenheit, soziale Sicherheit, Gesundheit, Lebenserwartung, persönliche Freiheit, Partizipations- und Entfaltungsmöglichkeiten, Wissenschaft, Technologie und generelle Fähigkeit zum Wandel. Zwar holt der Konkurrent China mächtig auf, zahlt aber im Bestreben, die Vormachtstellung der Partei zu sichern, mit der Erdrosselung von Freiheit und persönlicher Initiative. Die chinesische Gesamtbilanz bleibt trostlos. Von Russland muss man gar nicht reden.
Der Westen ist so lange nicht am Ende, als er die Freiheit als Kern seiner Identität nicht antastet. Putin und Xi können mit noch so aggressiver Propaganda daran nichts ändern. Und nicht einmal die illiberalen Bestrebungen von Trump, Orbán, Le Pen und anderen, die den Westen von innen her angreifen, können auf Dauer Schaden anrichten, so lange das zivilgesellschaftliche Korrektiv handlungsfähig bleibt. Nichts deutet darauf hin, dass die Kritik an diesen Möchtegern-Autokraten verstummen könnte. Der Westen als Idee und Kultur ist so vital wie eh und je.