Der deutsche Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker schlug über mehrere Jahrzehnte sein Publikum in Bann. Denn er verband die Naturwissenschaften, speziell die Physik, mit den philosophischen und religiösen Fragen seiner Zeitgenossen.
Die Wissenschaft und das Unbekannte
Ein Bestseller Weizsäckers hiess: „Die Einheit der Natur“. Wieder und wieder legte Weizsäcker dar, dass die unterschiedlichen Denkmethoden der Natur- und Geisteswissenschaften keine Gegensätze bilden, sondern sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Man müsse sie nur bis in ihre Tiefen hinein verfolgen.
Das neueste Buch von Eduard Kaeser mit dem Titel: „Die Welträtsel sind nicht gelöst. Die Wissenschaft, das Unbekannte und das Geheimnis“, erinnert an die Werke Carl Friedrich von Weizsäckers. Genau wie dieser verfügt Kaeser über ein geradezu enzyklopädisches Wissen. Und er versteht es, seine Themen mit grösster Klarheit zu fokussieren und herauszuarbeiten.
Wo liegt der Anfang
Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Während Weizsäcker eher darauf aus war, unterschiedliche Denkmethoden in Einklang zu bringen, zielt Kaeser auf die Leerstellen dazwischen. Diese wiederum werden erst in voller Klarheit sichtbar, wenn die Wissenschaften fruchtbar miteinander verknüpft werden.
Mit dem Thema „Welträtsel“ verbindet sich zunächst einmal die Frage nach dem Anfang der Welt. Wie und woraus ist sie entstanden? Kaeser verfolgt nun die derzeit gültigen physikalischen Theorien und macht deutlich, dass die Analysen und Erkenntnisse unvorstellbar weit in die Vergangenheit zurückreichen, aber eine Schwelle nicht überschreiten können: die Schwelle, hinter der der eigentliche Anfang liegt. Woher kam und wie entstand der allererste Impuls, der das kosmische Geschehen in Gang setzte?
Aus dem Nichts
Kaeser spricht metaphorisch von einer „zufälligen Blähung einer Quanten-Fluktuation“ und zitiert ein Bonmot des Kosmologen Alan Gut: „The Universe is a free lunch.“ Anders als in der Wirtschaft also, in der es keinen „free lunch“ gibt, scheint der Kosmos oder das, was vor ihm lag, etwas aus dem „Nichts“ hervorgehen zu lassen.
Eine andere Frage, die Kaeser in wohltuender Klarheit behandelt, ist die nach dem Geltungsbereich der Naturgesetze: Sind sie geschichtlich, also an die Materie des Kosmos gebunden, und gelten sie für alle Skalen, also vom subatomaren Bereich bis hinein in die kosmischen Weiten? Schön ist es, wie sich Kaeser bei der Behandlung dieser Fragen auf die Entdeckung der Schwerkraft von Isaak Newton bezieht und dabei herausarbeitet, wie schon dieses für uns selbstverständliche Gesetz im Grunde das Vorstellungsvermögen sprengt.
Aliens
Das Vorstellungsvermögen stösst aber auch schon da an Grenzen, wo der Mensch „selbstlernende“ Maschinen konstruiert. Man kennt zwar die Anfangsbedingungen für die Informationsaufnahme und Verarbeitung, aber je weiter dieser Prozess voranschreitet und die Maschinen sich selbst optimieren, desto weniger wissen die Informatiker über die Algorithmen, die dabei entstehen und zum Beispiel die globalen Finanzmärkte steuern. Diese Machinen nennt man auch „Aliens“.
Selbst die uns vertraute Umwelt birgt ungelöste Rätsel. So haben Tiere, zum Beispiel Insekten, völlig andere Wahrnehmungssysteme als wir. Sie orientieren sich zum Beispiel an Gerüchen oder an der Polarisation von Licht. Sie nehmen also die Welt völlig anders wahr als wir, so dass sie auch ein grundlegend anderes „Weltbild“ haben. Daher kennen wir auch deren „Intelligenz“ nicht.
Geist, Freiheit, Verantwortung
Diese Einsicht ist nicht trivial. Kaeser behandelt sie im Zusammenhang mit der Frage, ob es ausserirdische Intelligenzen geben kann. Die Antwort ist verblüffend: Ausserirdische Intelligenzen sind durchaus möglich, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie als Intelligenzen erkennen, steht in Frage.
Aber wie steht es um unsere eigene Intelligenz? Der Mensch bildet sich viel auf seine intellektuellen Fähigkeiten und seinen Geist ein, aber wie sind diese mit neurobiologisch beschreibbaren Vorgängen in seinem Gehirn verknüpft? Bis heute kann kein Wissenschaftler bündig erklären, wie aus den milliardenfach vorhandenen Neuronen und den zwischen ihnen ablaufenden Prozessen das Bewusstsein vom Ich, von Freiheit oder auch die Wahrnehmung von Schönheit entsteht. Ganz entschieden weist Kaeser die Ansprüche mancher Neurobiologen zurück, das menschliche Verhalten aus den Abläufen im Gehirn erklären zu können und damit Freiheit und Verantwortung als Illusion zu entlarven.
Falsche Buchmetapher
Ein weiteres Glanzstück sind Kaesers Betrachtungen zum Thema Religion. Am Anfang dieses Kapitels räumt Kaeser mit einem Irrtum auf, dem zum Beispiel Kardinal Josef Ratzinger erlegen ist. Dieser Irrtum basiert auf der christlichen Tradition. Er besteht in der Ansicht, dass die Welt eine Art Buch sei, das es zu lesen gelte. Diese Buchmetapher ermöglicht die Verbindung mit den Naturwissenschaften. Denn was tun die Wissenschaftler anderes, als die Welt immer weiter zu entziffern?
Diese Buchmetapher aber hat für die moderne Wissenschaft keine Gültigkeit. Denn die Welt ist kein zweck- und zielgerichtetes Unternehmen, das man wie eine Geschichte von Anfang bis Ende lesen und deuten könnte. Die Prozesse, die die Naturwissenschaftler analysieren, haben kein „intelligent design“, das ihnen eine Richtung gäbe. Selbst die Naturgesetze, mit denen der Wissenschaftler arbeitet, sind nicht direkt aus der Natur abgeleitet, sondern Modelle, die mehr oder weniger gut passen. Experimente dienen der Überprüfung innerhalb definierter Grenzen.
Zugang zum Religiösen
Doch es gibt eine „Lesbarkeit der Welt“ in einem anderen Sinne. Dabei bezieht sich Kaeser zunächst auf Walter Benjamin, der einmal einen Baum geradezu mystisch beschrieben hat. Darüber hinausgehend verwendet Kaeser den Begriff des Lesens in einem erweiterten Sinne. Denn wenn wir einen Text lesen, nehmen wir nicht nur Buchstaben auf, sondern bilden Worte, Sätze und verstehen die Bedeutung. „Dieses ‚Vermählen‘ von Materiellem und Immateriellem chrakterisiert alles Lesen.“
Und Kaeser bekennt: „Ich sehe darin einen möglichen Zugang zum Religiösen über die Sinnlichkeit: Im Ungefügten Fragespuren zu entdecken, deren Verfolgung uns wertvoll erscheint, sogar unser Leben erfüllen kann, ohne dass wir hoffen können, je an ihr Ende zu gelangen.“
Eduard Kaeser, Die Welträtsel sind nicht gelöst. Die Wissenschaft, das Unbekannte und das Geheimnis, 232 Seiten, Die Graue Edition 2017, Prof. Dr. Alfred Schmid-Stiftung, Zug/Schweiz.