In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ersann der populäre amerikanische Komiker Steve Allen «The Question Man», ein Fernsehspiel, welches das bekannte Briefkastenonkel-Format «Sie fragen, wir antworten» umkehrte in «Sie antworten, wir fragen». Auf Antworten von Zuschauern reagierte Allen mit passenden Fragen; etwa auf die Antwort «Rang und Name» mit der Frage «Was braucht es, um aus einem Militärgefängnis zu entkommen?» Das war im Besonderen teils witzig, teils albern, weist aber im Allgemeinen hin auf einen höchst aufschlussreichen Charakterzug unseres Umgangs mit dem Wissen am Anfang des 21. Jahrhunderts.
Im Zeitalter der Abfrage – der «Query» – verlernen wir zunehmend das Fragen. Wir gewöhnen uns daran, dass Wissen sich in den labyrinthischen Tiefen des Internet in kaum messbarer Quantität sammelt, Wissen, zu dem man über ein paar Klicks Zugang erhält. Wir sind überzeugt, dass das Wissen da ist, die einzige Frage ist: wo? Und diese Gewohnheit treibt uns die Neugier aus, das heisst ein Fragen, welches sich aus dem Nichtwissen speist. Wer etwas wissen will, fragt ab; aber wer etwas nicht weiss, fragt. Wer nicht fragt, weiss nicht, wo er steht, und er weiss nicht, dass er nicht weiss.
Zwei Arten des Unbekannten
Der Unterschied bringt zwei Arten des Unbekannten ins Spiel: Unbekanntes, das man vor sich hat wie eine Terra incognita, in die man Wege legt; und Unbekanntes, das erst durch das Erkunden und Erforschen, durch das Wege-legen entsteht. Die erste Art führt zu einer kognitiven Landnahme; die zweite Art hebt sozusagen Landmassen aus dem Ozean des Nichtwissens.
Ein schönes Beispiel bietet die imaginäre Zahl i, die Quadratwurzel aus minus 1. Sie ist – wie ihr Name sagt – ein Produkt der Imagination, sie zeugt von der geradezu kosmogonischen Potenz menschlicher Einbildungskraft. Der Wirklichkeitssinn der reellen Zahlen sagt uns: es gibt keine Quadratwurzel aus minus 1. Der Möglichkeitssinn der Imagination sagt uns: Statt sie arithmetisch zu exkommunizieren, bürgern wir sie doch einfach ein. Und siehe da: Ehe man sich’s versieht, hat diese «eingebildete» Zahl ein Reich bisher nicht bekannten Ausmasses, bisher kaum erahnter Tiefe eröffnet! Zahlen, die es vorher gar nicht «gab», werden einfach zu den existierenden Zahlen hinzugefügt, und dieses neue Mischreich aus Existentem und Nicht-Existentem – die komplexen Zahlen – entpuppt sich als ein mathematisches Wunderhorn.
Mit dem «Unmöglichen» arbeiten
Man sollte das im Übrigen nicht auf die Mathematik beschränkt sehen. Immer wieder erfolgen entscheidende Durchbrüche in den empirischen Wissenschaften dadurch, dass man das, was man nicht weiss oder das, was das «offizielle» Wissen ausschliesst, gewissermassen als Faktum behandelt. Negative Energie und Antimaterie? Kann es nicht geben, sagten die Physiker in den 1930er Jahren. Tun wir doch einfach so, als ob es sie gäbe und rechnen wir damit, sagte der geniale Paul Adrian Dirac. Und siehe da: Heute gehören Antiteilchen zum Inventar der modernen Physik, und die bildgebende Medizintechnologie kommt nicht aus ohne sie.
Haben Tiere ein Innenleben? Wissen wir nicht, können wir nicht wissen, sagten die Zoologen bis vor vierzig Jahren. Behandeln wir sie doch einfach so, wie wenn sie ein art-eigenenes Innenleben hätten und erklären wir daraus ihr Verhalten, sagen heute die kognitiven Ethologen. Und siehe da: Sie entdecken fortlaufend verblüffende mentale Fähigkeiten von Tieren (vielleicht auch von Pflanzen). Nichts kann für den forschenden Geist erregender sein als Dinge, von denen er nicht weiss, dass er sie nicht weiss. Sie lauern überall auf ihn.
«Das Wissen wird gross sein»
Mentalität und Motivation der Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert sind das Erkunden und Erobern von unkartierten Wissensgebieten. Alles ist schon gesagt im Frontispiz der ersten neuzeitlichen Methodenlehre, des «Novum Organum» von Francis Bacon aus dem Jahre 1620: Es zeigt eine Galeone, welche die legendären Säulen des Herakles bei Gibraltar passiert, also aus dem bekannten ins unbekannte Meer sticht. «Viele werden nachforschen und das Wissen wird gross sein,» lautet das biblische Motto (Daniel 12,4).
Interessanterweise war es ebenfalls Bacon, der in seinem andern Hauptwerk «Über die Würde und die Förderung der Wissenschaften» die unmässige und «unfruchtbare» Publikationsflut der alten Gelehrsamkeit anprangerte. Er konnte nicht ahnen, dass die neue wissenschaftliche Gelehrsamkeit einen noch grösseren Wust an Wissen hervorbringen würde. Schon 1680 schrieb Leibniz, immerhin ein Universalgelehrter, dass zu viele Bücher geschrieben würden; ihre «schreckenerregende Vielzahl», die «ständig zunimmt», trage beträchtlich dazu bei, dass sich trotz der «wunderbaren Veränderungen» der Wissenschaften die Zahl der Dispute und die Zufriedenheit mit Scheinargumenten vermehre, und es sei deshalb zu befürchten, «dass die Menschen nach nutzloser Vergeudung des Wissensdranges (...) der Wissenschaften überdrüssig werden und durch eine unheilvolle Verzweiflung in die Barbarei zurückfallen.» Man kann vor diesem Hintergrund aus Kants Kritik der reinen Vernunft ein erstes alarmiertes Nachfragen heraushören: Was können wir eigentlich wissen?
Rohstoff Wissen
Die Frage steht unserer Gesellschaft gut an, in der sich eine neue Wissensökologie etabliert, das heisst, sich die Wissensformen neu verteilen. Was hier eigentlich auf dem Spiel steht, muss in einem erweiterten Horizont wahrgenommen werden. Das Mantra unserer Zeit lautet ja: «Wissen als Produktionsfaktor», «Rohstoff Wissen».
Verdrängt wird dabei, dass ein solches Konzept das Wissen von innen zersetzt. Als verhängnisvoll muss die Tendenz bezeichnet werden, Wissen durch «Kompetenzen» zu ersetzen, und diese dann durch entsprechende Technologien zu verstärken und zu verbessern: «Knowledge Enhancement» im Dienste der Best Practice. Damit sehen wir Wissen primär mit dem Auge des Wettbewerbsvorteils und koppeln es von Erkentnissuche ab, genauer: vom Nichtwissen. Denn Erkenntnissuche setzt Nichtwissen voraus, als eine Tugend, als ein Ethos!
Fortschritt dank bewusstem Nichtwissen
«Bewusste Ignoranz ist die Voraussetzung für echten wissenschaftlichen Fortschritt,» meinte James Clark Maxwell, der wohl grösste Physiker zwischen Newton und Einstein. Und der Pionier der modernen Mathematik Gottlieb Frege schrieb einmal abschätzig über einen anderen Grossen seiner Zunft, den Mathematiker Karl Weierstrass: «Er hat eben gar nicht (über die Zahlen, Anm. E.K.) nachgedacht. Und warum nicht? Er hat offenbar geglaubt, dass gar kein Nachdenken erforderlich wäre. Ihm fehlte das erste Erfordernis: die Erkenntnis des Nichtwissens.»
Diese Erkenntnis – das Schwebenlassen unseres Wissens in der Fraglichkeit – nannte übrigens Heidegger in einem anderen Zusammenhang «Denken». Und deshalb konnte er den oft missverstandenen Satz in die Welt setzen: «Die Wissenschaft denkt nicht».
Eine neue Renaissance?
Wenn das Nichtwissen eine ebenso starke Triebfeder der Wissenschaft ist wie das Wissen, dann müsste die Ignoranz in der Ausbildung ebenso kuratiert werden wie das Wissen. Dann müsste dem Einstieg in eine Disziplin sozusagen als wissenschaftliche Vorschule die Geschichte ihrer Irrtümer und Holzwege vorangehen; eine Auflistung von Fehlschlüssen, wie man auf der Grundlage von empirischen Befunden etwas gerade nicht wissen oder behaupten kann («non sequitur»): ein Propädeutikum der informierten Ignoranz also.
Das weckt nota bene die Erinnerung an eine lange zurückliegende Wende-Epoche in der europäischen Geistesgeschichte: die Renaissance. Der Humanismus der Renaissance war eine Bewegung der Skepsis, der eingestandenen und befragten Unwissenheit. Petrarca verfasst «Über seine und vieler anderer Unwissenheit» (1370), Nicolaus von Kues «Von der gelehrten Unwissenheit» (1440), Erasmus von Rotterdam «Lob der Torheit» (1509), Montaignes «Essais» (1580) atmen den Geist der Skepsis, und der Stammvater der modernen Philosophie, Descartes, schreibt 1637 in seinem «Discours de la méthode»: «Sobald ich jedoch meine Studien vollendet hatte, nach deren Abschluss man unter die Klasse der Gelehrten aufgenommen zu werden pflegt, änderte sich meine Ansicht gänzlich. Denn ich sah mich von so vielen Zweifeln und Irrtümern bedrängt, dass ich von meinen Studien nur den einen Vorteil hatte, meine Unwissenheit mehr und mehr einzusehen.»
Wissensmanagement statt Forschung
Zu denken gibt, wie heute die Bildungsanstalten, allen voran die Hochschulen, das Nichtwissen verorten. Ende der 1990er Jahre wurde in Deutschland vom deutschen Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie eine sogenannte «Delphi-Studie» in Auftrag gegeben, mit dem Ziel, Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung der postindustriellen Gesellschaft zu entwerfen. Sie hebt besonders einen neuen Wissenstyp – oder vielmehr: eine Kompetenz – hervor: das Umgehenkönnen mit den Wissensmengen. Diese Management-Haltung spiegelt genau den eingangs geschilderten Wissensbegriff als eines vorhandenen ungeheuren Korpus’, den man nur noch «abfragt».
Dem Wissen, das um seiner selbst willen gesucht wird, dem Wissen «aus schlichter Neugier», messen die Autoren der Studie keine zentrale Bedeutung bei. «Insgesamt ist festzuhalten, dass Grundlagenforschung von den Befragten in der Regel nicht mit dynamischem Erkenntniszuwachs verbunden wird.» «Eine völlig zweckfreie Grundlagenforschung wird sich mithin in einer Wissensgesellschaft schwer tun, in der die Wissensproduktion systematisch wird und so aufwendig ist, dass Investitionen in Forschung im Normalfall mit einem konkreten Nutzen begründet werden müssen.»
Die Gefahr besteht, auf diese Art vor allem Wissenschaft als Faktenhuberei zu fördern – gerade in der Zeit von Big Data. Generell zeichnet das «Wissens-Delphi» ein Szenario, in dem das Nichtwissen als Triebfeder kaum noch eine Rolle spielt. Und man staunt: Klassische Disziplinen wie Physik, Chemie und Mathematik werden als «weitgehend erforscht» taxiert – im Zeitalter der Quantenverschränkung, der Komplexitätsforschung, der diskreten, computergestützten Mathematik, der neuen synthetischen Stoffe, der immer raffinierteren Algorithmen!
Quantentheorie stellt neue Fragen
Ist den Autoren bewusst, dass sie genau dieselbe Situation heraufbeschwören, wie sie Max Planck vor über einem Jahrhundert als junger Physikstudent angetroffen hatte. Damals wurde ihm empfohlen, nicht Physik zu studieren, weil «im Prinzip» alle Fragen beantwortet seien. Dies am Vorabend der Quantentheorie, der bisher grössten Revolution in der Wissenschaftsgeschichte.
Und die Quantentheorie ist bis heute als grosse Fragenquelle unversiegt geblieben. Niemand würde sie eigentlich richtig verstehen, sagte einer ihrer Koryphäen, Richard Feynman. Sie gibt bewundernswerte Antworten über die Struktur der Materie, stellt aber noch mehr wunderliche Fragen. Ohnehin ist Wissenschaft da am vitalesten – souzusagen der Vegetationskegel der Forschung - wo sie nicht weiss: Zum Beispiel kennt man die Nebenfolgen eines neuen Medikaments (noch) nicht oder die Langzeiteffekte eines genmutierten Organismus. Hier ist der Forscher sogar gezwungen, vernünftig mit Nichtwissen umzugehen.
Wo der Zweifel ist, da ist auch die Freiheit
Man kann einwenden, hier würde eine Lanze für einen «überständigen» Typus von Wissen gebrochen, der ja auch immer nur einen kleinen «elitären» Teil der Wissenschafter charakterisiere. Dies freilich ist eine Ideologie, die zum Trend der gängigen Betriebsökonomisierung der Wissenschaft gehört, wie sie nicht zuletzt in der Lageeinschätzung der Delphi-Studie anklingt. Sie ist einäugig.
Dagegen halte ich die These, dass Wissenschaft in dem Masse Kultur zeigt, in dem sie dem Nichtwissen seinen gebührenden erkenntnistheoretischen Ort einräumt. So gesehen, hat Wissenschaft heute eigentlich keine oder keine grosse Kultur. Es gibt freilich Anzeichen eines Umdenkens. Stuart Firestein, ein amerikanischer Neurowissenschafter, hält Vorlesungen und Seminarien über Nichtwissen. Er hat kürzlich auch ein gedankenreiches Buch geschrieben: «Ignoranz. Die Triebfeder der Wissenschaft» (deutsch 2013). Robert Proctor, Wissenschaftshistoriker in Stanford, plädiert dafür, als Gegengewicht zur Epistemologie eine Disziplin einzurichten, die er «Agnotologie» nennt: das historische und kulturelle Studium des Nichtwissens.
Sogar die Betriebsökonomie scheint das Nichtwissen entdeckt zu haben. In einem Handbuch für Führungskräfte liest man: Solange man sich auf einer bestimmten Ebene der Unternehmenshierarchie emporarbeitet, sollte man soviel Wissen wie möglich ansammeln, dieses aber, sobald man die nächste Ebene erreicht, komplett vergessen. – Hört!
Nichtwissen entspringt dem Zweifel. Der Zweifel ist ein Akt der Freiheit. Zweifeln heisst Mut haben, von Fraglosem abzulassen. Es gibt keine Methode, das Fragen zu lernen. Aber es gibt geistige Klimata, in denen das Fragen gedeiht. Freiräume des kreativen Nichtwissens – das müssten eigentlich die Universitäten sein. Nicht zu wissen, das sind die Risse in den Dogmen, Doktrinen und dicht verspachtelten Weltbildern. Bilder können sich zu Gefängnissen entwickeln, sagte Ludwig Wittgenstein. Aber Trost kommt von Leonard Cohen. «There is a crack in everything, that’s how the light gets in,» singt er.