Europaweit stellt sich gerade die Frage, ob man angesichts des Kriegs in der Ukraine Tschaikowskys Werke noch spielen soll. Das Theater St. Gallen hat sich für die kommenden Festspiele gegen Tschaikowskys Oper «Die Jungfrau von Orléans» entschieden – ein zweiter Paukenschlag nach einem ersten, der seit einigen Wochen das Theater im Innern erschüttert, und zu lebhaftem Protest führt.
Seit Anfang März befindet sich das Theater St. Gallen in schweren Turbulenzen. Während gegenüber dem Provisorium das Theatergebäude einer Generalsanierung unterzogen wird, macht der auf die Saison 2023/24 neu gewählte Theaterdirektor Jan Henric Bogen Nägel mit Köpfen. Genauer gesagt: Er wechselt sämtliche Köpfe aus, mit denen er heute noch als Opernchef zusammenarbeitet. Schauspieldirektor Jonas Knecht muss ebenso gehen wie Tanzchef Kinsun Chan, die Position von Konzertdirektor Florian Scheiber wird gleich ganz abgeschafft. Jan Henric Bogen, angetreten mit der Absicht, «Impulsgeber, nicht Alleinherrscher» sein zu wollen, wie er im Dezember im «St. Galler Tagblatt» erklärte, und das Haus «kollaborativ und transparent» zu führen, scheint zuallererst neue Leute zu brauchen.
Warum, das bleibt unklar. «Es gibt eine künstlerische Halbwertszeit», erklärt er zum Abgang des Konzertdirektors, er wünsche sich im Konzertbereich einen «Neuanfang». Wozu dann im Widerspruch steht, dass Chefdirigent Modestas Pitrenas, der sich in einer ersten Reaktion entsetzt zeigt, bleiben soll und sogar aufgewertet wird.
Konzertgänger verschaffen ihrem Unmut Luft
Das Echo auf diesen Paukenschlag ist katastrophal. In Leserbriefen verschaffen insbesondere die treuen Konzertgängerinnen und -gänger ihrem Unmut Luft, während der Verwaltungsratspräsident Urs Rüegsegger salopp sagt: «Eine öffentliche Diskussion wurde nicht erwogen.» Eine erstaunliche Feststellung aus der Spitze einer Institution, die sich – nicht nur finanziell – eben dieser Öffentlichkeit verpflichtet fühlen muss. Rüegseggers Vizepräsidentin, die St.Galler Regierungsrätin Laura Bucher, gibt zu, die Wucht und Fülle der Reaktionen habe sie überrascht. Sie werte dies «auch als Zeichen der starken Verbundenheit des Publikums und auch der Mitarbeitenden mit dieser Institution». Ob es nun auch unter diesen Mitarbeitenden zu einem Kahlschlag kommen wird, bleibt offen.
Schon im November hatte Thomas Schmidt, Professor für Theater- und Orchestermanagement in Frankfurt am Main, das für St. Gallen angepeilte neue Führungsmodell vor allem wegen der Machtkonzentration auf die Person Bogens deutlich kritisiert. Die Trennung vom bisherigen Führungsteam des Dreispartentheaters «hat weniger mit einem künstlerischen Neuanfang zu tun als mit dem Wunsch, in allen Sparten ungehindert Einfluss nehmen und durchregieren zu können», erklärt er im März im «St. Galler Tagblatt».
Am Ende wird es tatsächlich das Publikum sein, das sein Urteil spricht. Die Latte liegt hoch: Bogen soll nicht nur Experimente wagen – was freilich Jonas Knecht, Kinsun Chan und Florian Scheiber auch schon getan haben –, er muss auch eine Auslastung von 75 Prozent erreichen.
Ist Tschaikowsky nicht zumutbar?
In diesen schwelenden Unmut nun platzt diesen Donnerstag ein zweiter Paukenschlag, der verantwortet wird vom noch amtierenden Theaterdirektor Werner Signer und von Jan Henric Bogen als Opernchef. Die für die St. Galler Festspiele im Juni als Open-Air-Produktion angesetzte Oper «Die Jungfrau von Orléans» von Pjotr I. Tschaikowsky wird wegen des Einmarschs der Russen in die Ukraine gekippt. Man könne es «angesichts des unvermindert anhaltenden Kriegsgeschehens im Osten Europas nicht verantworten, im öffentlichen Stadtraum ein russisches Werk aufzuführen», teilt das Theater in einer sehr knappen Erklärung mit. Stattdessen werde man Giuseppe Verdis «Giovanna d’Arco» spielen.
Ausführlicher erklären sich Signer und Bogen im «St. Galler Tagblatt». «Von einer Open-Air-Aufführung geht eine nicht steuerbare Wirkung aus», sagt Bogen; der Entscheid sei «ein Akt der Rücksichtnahme auf die Gefühle all jener, die von der Situation unmittelbar betroffen sind». «Die Änderung des Programms ist keine Abkehr von der russischen Kultur», betont Signer und weist darauf hin, im die Festspiele begleitenden Konzertprogramm werde man weiter die vorgesehenen russischen Werke spielen.
Man kann die Frage stellen: Hätte man nicht gerade jetzt ein Zeichen setzen sollen für eine russische Kultur, die von Putins Diktatur nicht ebenso zermalmt wird wie die ukrainischen Städte? Und wäre der homosexuelle, stark westlich ausgerichtete Pjotr Tschaikowsky nicht der ideale Bannerträger gewesen? Hätte der ehrwürdige Klosterhof, auf dem die Festspiel-Oper jeweils aufgeführt wird, die russische Sprache tatsächlich nicht ertragen können? Es ist eine Debatte, die über St. Gallen hinaus reicht, und die den künftigen Umgang mit russischer Kultur überhaupt betrifft, also auch – um ein paar Beispiele zu nennen – mit der Musik Schostakowitschs oder mit den Romanen Tolstois und Dostojewskis. Bei den Osterfestspielen Baden-Baden haben gerade die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko mehrere Tschaikowsky-Opern gespielt, und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat daran erinnert, wann Tschaikowsky zum letzten Mal in Deutschland verboten gewesen sei: zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 8. Mai 1945.